Züritüütscher geht nicht

Im Restaurant «Rechberg» wirten seit ein paar Monaten Alexander Guggenbühl, sein Bruder Raphael und einige weitere junge Leute mit Enthusiasmus. Sie bieten mehrheitlich Speisen, wie es sie im Baujahr des Hauses, 1837, gegeben hat.

Wir kamen genau zum richtigen Zeitpunkt. Hatten etwas zu feiern. Das ­Hubertus-Menu im Zürcher Traditionslokal «Rechberg 1837» war jedoch eine echte Überraschung. Wir waren gefasst gewesen auf eine innovative Zürcher Traditionsküche, auf den Linse-Pinsel zum Beispiel mit süsser Chürbis-Gonfi und Spinatsalat (Fr. 18.80), oder auf die «Gstohleni Gans mit Wirsing und Preiselbeeri» (Fr. 42.20). Angerichtet, kommentiert und serviert auf Züritüütsch, wie uns der Schnabel ja gewachsen ist. Mündlich kein Problem, aber geschrieben?
Steinbock stand auf der Karte! Den gibt es aber definitiv nicht in Zürich, nicht einmal oben am Tössstock. Logo, gibt es auch kein zürichdeutsches Wort für den Bergkönig, der im Bündnerland auch noch Capricorn heisst oder Stambuoch – und natürlich Gian und Giachen wie die zwei aus dem Fernsehen. Aber Wildbret war in früheren Zeiten «ein Schläck der Rychen», also alleweil in Zürich am Platz.

Ururgrossvaters Knigge
Die neue «Rechberg»-Crew kocht nicht nur mit Produkten, die 1837, dem Baujahr der historischen städtischen Liegenschaft am Seilergraben/Ecke Chorgasse, auf dem Markt waren. Sie kauft auch ganze Tiere bei Schweizer Bauern oder Jägern, die sie vollständig verwertet, von Kopf bis Huf. In unserm Glücksfall war es ein junger Steinbock, vier- bis fünfeinhalbjährig, am 21. Ok­tober 2016 erlegt von Alois Berther im oberen Prättigau.
Nur im Restaurant, nicht auf der Web­site, findet der Gast das aktuelle Jägermenu, sozusagen als Geheimtipp. Fünfgängig kostet es 160 Franken. Wir machten es etwas komplizierter, konzentrierten uns auf den Hauptgang, und der war vorzüglich. In bocca d’luf (was romanisch ist und «Weidmannsheil» bedeutet). Der beerige rote Quarteto vom Weingut Lenz in Iselisberg passte bestens!

Vor der Industrialisierung
Im stilvoll renovierten, weiss aufgedeckten «Rechberg» also, der sich auch als Kulturtreff versteht, kann man den Speisezettel studieren, als Einlage im «Schweizer Knigge» von Ururgross­vater Adolf Guggenbühl (1896-1971). Der führte an der Storchengasse 16 mit Schwester und Schwager die Redaktionsstube der Zeitschrift Schweizer Spiegel, von 1925 bis 1972. Er stand zwar stramm zur geistigen Landesverteidigung, doch spiegelte er auch einen so «unschweizerischen» Schriftsteller wie Friedrich Glauser. 1935 hatte er den Mut, «Die Moorsoldaten» von Wolfgang Langhoff als Buch zu veröffentlichen, den ersten authentischen Bericht aus den Konzentrationslagern der Nazis. Das erregte riesiges Aufsehen.
Das vorangegangene und im August ausgelaufene Experiment im «Feldhof» in Pfaffhausen, die intensive Zusammenarbeit mit ansässigen Bauern, war für das jetzige «Rechberg»-Team ein toller Lehrblätz. Seit September kocht es nachhaltig, engagiert und ansteckend wissensdurstig ausschliesslich mit Lebensmitteln, die 1837, als das neue Zuhause im Kreis 1 erbaut wurde, in Zürich auf den Märkten erhältlich waren, also vor der Industrialisierung der Nahrungsmittelindustrie. Das waren Produkte, die die Saison und die Region hergaben, Linsen, Chürbis, Schwalen, Brunnäkresse, Eier, Härdöpfel, Chrutstil… Historisch symbolträchtig ist im «Rechberg» das Sauerteigbrot Wilhelm, das so heisst, weil der Grundteig am 1. August angesetzt wurde. Ein Glas Schweizer Schaumwein namens Helveticus passt gut dazu!
Zürich war im 19. Jahrhundert politisch und sozial erschüttert durch den Übergang von der Landwirtschaft zur Industrie, und der «Rechberg» spiegelt diese Zeit mit Speis und Trank. Dass Julius Maggi in Kemptthal ab 1885 aus Leguminosenmehl Suppen fabrizierte, die den geplagten Arbeiterfrauen das Kochen erleichterten, gehört auch zu dieser Geschichtsphase, solche fehlen aber zu Recht auf der Speisekarte. Im «Rechberg 1837» isst man 2017 besser! Man nennt das auch Fortschritt.

Esther Scheidegger

Restaurant «Rechberg 1837», Chorgassee 20. Samstagmittag und Sonntag geschlossen, Tel. 044 222 18 37, info@rechberg.ch.