Schreiben gegen den Krieg

Silvana Lattmann lebt in der Altstadt. Sie ist gerade 98 Jahre alt geworden. In diesen Tagen erscheint ihr neues Buch – und sie schreibt bereits an ihrem nächsten. Der Altstadt Kurier hat sie zu Hause besucht.

«Normalerweise schreibe ich neben Prosa vor allem Gedichte, Bücher mit Gedichten gegen den Krieg. Aber dieses Buch ist anders», erklärt die vitale Silvana Lattmann ihrem Besucher.
Wir haben Platz genommen am massiven Tisch im Wohnzimmer. Die gegen Norden gerichtete Fensterfront lässt wenig Tageslicht herein, die gegenüberliegende Häuserzeile ist nah. Die Rückwand lässt durch ein Fenster in die Küche blicken. Die Bilder an der einen Wand sind alle gemalt von Silvana Lattmann. Sie wohnt seit 1997 in ihrer Wohnung an der Brunngasse 8.

Wohnen in historischem Ambiente
Hier sind bei der umfassenden Renovation des Hauses Mitte der Neunzigerjahre mittelalterliche Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert zum Vorschein gekommen und aufwendig restauriert worden. Die heute im Treppenhaus zu besichtigenden Malereien zeigen eine Tanzszene. Am oberen Rand ist eine durchgehende Reihe von Familienwappen aufgemalt, die Familiennamen darunter sind in Hebräisch geschrieben. Das Haus gehörte damals einer jüdischen Bankiersfamilie. Die Malereien schmückten den herrschaftlichen Empfangsraum im ersten Obergeschoss des Hauses. Die gegenüberliegende Wand des stattlichen Raumes befindet sich in der heutigen Wohnung von Silvana Lattmann. Als kulturell interessierte Frau legte sie grossen Wert darauf, dass auch die Fresken in ihrem Wohnzimmer restauriert wurden und sichtbar blieben, denn ursprünglich war vorgesehen, sie durch eine Holzabdeckung zu schützen. Zur Geschichte dieses (heute der Stadt gehörenden) Hauses und zum Schicksal der Besitzerfamilie (im 14. Jahrhundert wurden die Juden in Zürich alle vertrieben oder umgebracht) hat Silvana Lattmann vor einigen Jahren ein kleines Buch geschrieben.
Aus dem Nebenzimmer holt sie ihr neues Buch aus einem Schrank, auf dessen Regalen jeweils mehrere Exemplare der verschiedenen Bücher stehen: Allesamt sind sie von der Gastgeberin geschrieben. Seit den Siebzigerjahren ist sie Schriftstellerin, seit sie Zeit dafür fand.

Blick zurück auf ein langes Leben
Am 8. November 1918 als Tochter eines Rechtsanwalts in Neapel geboren, absolvierte sie in Genua ein Biologiestudium, das sie 1942 mit dem Doktorat abschloss. Das war eine schlimme Zeit: «Ich habe mein Studium unter Bomben gemacht», sagt sie auf Hochdeutsch mit Akzent, schreiben tut sie bis heute in ihrer Muttersprache. Gleich nach dem Abschluss heiratete sie und zog nach Cagliari auf Sardinien, wo ihr Gatte als Kapitän eines U-Bootes stationiert war, um in seiner Nähe zu sein. Als sie am 6. Dezember des gleichen Jahres am Hafen die Rückkehr ihres Mannes von einer Mission erwartete, wartete sie vergeblich. Das U-Boot war von einem britischen U-Boot versenkt worden, alle sind umgekommen. Silvana Lattmann war im sechsten Monat schwanger. Es war schrecklich.
«Krieg ist so dumm! Ein halbes Jahr später ist auch das britische U-Boot zerstört worden. Krieg bringt nichts! Was hat der Erste Weltkrieg gebracht? Den Zweiten Weltkrieg. Und heute ist wieder eine schlimme Zeit, alle wollen Krieg», sagt sie und fährt fort: «Nach dem Krieg sitzen alle am Tisch. Sie müssen vor dem Krieg, anstatt des Krieges, am Tisch sitzen! Krieg ist dumm!»
Silvana Lattmann hat in Norditalien gelebt, im April 1943 kam ihr Sohn Massimo zur Welt. Sie hat als Assistentin am Zoologischen Institut in Milano gearbeitet, musste Geld verdienen, als alleinstehende Mutter. War dann an der Meeresbiologischen Station in Napoli tätig, hat in Rom gelebt. Als sie beruflich in St. Gallen zu tun hatte, lernte sie ihren zweiten Mann Charles Lattmann kennen. 1954 heiratete sie und zog nach St. Gallen. Sie lebte dann in Rüschlikon und wohnt seit 1993 in der Zürcher Altstadt, zunächst an der Mühlegasse, seit 1997 an der Brunngasse. Ganz in der Nähe wohnt auch ihre Tochter Alexandra Jermann (geb. 1959) und deren Söhne. Sie ist zweifache Urgrossmutter. Die Sommermonate verbringt die rüstige Frau jeweils in ihrem Haus auf der Insel Elba, wo sie gern Gäste empfängt. (Die halbe Hausnachbarschaft war dort schon bei ihr zu Besuch, ihre Familie kommt sowieso regelmässig…)
Silvana Lattmann, geborene Abruzzese, hat übrigens eine prominente Persönlichkeit in ihrem Stammbaum: Ihr Urgrossonkel nämlich war Bartolomeo Alberto Cappellari (1765–1846), der von 1831 bis zu seinem Tod Papst war, Papst Gregor XVI. Silvana Lattmann hat dies nicht selbst erwähnt. Doch lebt sie nun fast hundert Jahre und drei Generationen weiter zurück ist man bei einem Papst der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelangt…

Als Schriftstellerin tätig
Seit sie Schriftstellerin ist, seit vierzig Jahren, findet man bei ihr sehr oft Argumente gegen den Krieg, für den Frieden, setzt sie sich ein für den interreligiösen Dialog. Meistens sind das wie erwähnt Gedichte. Ihr neues Buch jedoch, das im November in die Buchhandlungen kommt, bildet da eher eine Ausnahme. Es handelt vom Leben und den Reisen des 1784 geborenen Johann Ludwig Burckhardt, der in Basel aufgewachsen ist (siehe unten). Sie ist zufällig auf ein Buch über die besagte Persönlichkeit gestossen und hat sich dafür zu interessieren begonnen. Und sie hat sich auf Spurensuche zu diesem aussergewöhnlichen Mann begeben. Das gestaltete sich schwierig, denn bisher erschienene Schriften über ihn wurden in Englisch, Deutsch, Französisch, Arabisch verfasst und mussten erst übersetzt werden. Vier Jahre hat sie gearbeitet an diesem Werk, das 200 Seiten umfasst.
Ob sie nun alles etwas ruhiger angehen will? Sie hat ja doch ein hohes Alter erreicht, lebt noch allein in ihrer Wohnung (wobei sie an vier halben Tagen die Woche eine Unterstützung im Haushalt hat). Doch davon will die vitale Frau nichts wissen, sie sagt mit einem Schalk in den Augen: «In meinem Alter verliert man das Interesse an vielen Dingen… – Vielleicht werde ich wieder ein Buch schreiben.»

Elmar Melliger


Leben und Reisen von J.L. Burckhardt
Das neue Buch von Silvana Lattmann handelt vom Leben und den Reisen von Johann Ludwig Burckhardt, es ist auf Italienisch verfasst. 1784 wurde er in die Basler Patrizierfamilie Burckhardt geboren, als Sohn eines reichen Seidenbandfabrikanten. Dieser hat ein 1777 fertiggestelltes herrschaftliches Haus gebaut, das heute noch existiert und als Museum dient.
Johann Ludwig Burckhardt nun war nach seinem Studium in Deutschland in London gelandet, wo er drei Jahre vergeblich eine Arbeit suchte. Bis er schliesslich eine Stelle fand bei einer Gesellschaft zur Entdeckung des inneren Afrikas. Dazu musste Burckhardt Arabisch lernen und sich ein arabisches Aussehen zulegen, um nicht aufzufallen. Zwei Jahre lernte er die Sprache, in Aleppo. Er nannte sich nun Scheich Ibrahim Ibn Abdallah. Mehrere Reisen führten ihn den Nil hoch. Er entdeckte den versunkenen Tempel von Abu Simbel, ebenso die verlassene Felsenstadt Petra. Und er unternahm eine Pilgerreise nach Mekka und Medina. In Briefen an die African Association und an die Mutter berichtete er von den abenteuerlichen Reisen. Krankheiten machten ihm zu schaffen. Schliesslich starb er 1817 in Kairo im Alter von 33 Jahren an den Folgen einer Fischvergiftung.

Silvana Lattmann: Vita e viaggi di J.L. Burckhardt.
Un incontro con l’islam dell’ottocento. Novara 2016, Interlinea. 200 Seiten, mit zeitgenössischen Illustrationen, ca. Fr. 14.–.