Die unsichtbare Krone

Andres Boller, Pfarrer der Kirchgemeinde St. Peter, hat für den Altstadt Kurier den folgenden Beitrag, eine Weihnachtsgeschichte, verfasst.

Ich stehe vor einer grossen Schachtel und packe all die Kostüme aus, die die Kinder im Weihnachtsspiel tragen werden – als Hirten und Könige, als Maria und Josef, als Esel und Kamel. Zwischen den Königskleidern leuchtet etwas ganz fest. Es ist eine der Königskronen; sie ist sogar mit Edelsteinen verziert. Sorgfältig nehme ich sie aus der Schachtel. Und während ich die Krone in der Hand halte und einmal mehr bestaune, schweifen meine Gedanken ab – weit weg und weit zurück – bis in jenen kleinen Stall.

So klein war der Stall damals gar nicht. Unten im eigentlichen Stall stand die Krippe mit dem Kind – und daneben Maria und Josef. Und dann die Hirten, die kamen und gingen. Die drei Könige oder Weisen – auf jeden Fall sehr vornehme Gestalten, die auch kamen und gingen. Und zuhinterst im Dunkeln die Tiere – Ochse, Esel und ein paar Schafe. Eigentlich waren sie sonst der Mittelpunkt im Stall. Aber jetzt hatten sie sich zurückgezogen und sich gleichsam versteckt – versteckt vor den vielen Menschen, die da ein- und ausgingen. Das hatten sie noch nie erlebt. Eigentlich kannten sie nur einen Menschen, den Stallbesitzer, dem die Tiere gehörten und der auch gut zu ihnen schaute.
Der wohnte oben am Stall in einem kleinen Gemach. Er ging selten fort. Irgendwie hatte er Hemmungen. Denn am Kopf – sogar vorne an der Stirne – da hatte er seit seiner Jugend eine Narbe. Man sah sie gut. Er hatte in jungen Jahren einmal einen Streit. Und da hat der andere ihn geschlagen – er selber auch. Es war nicht gerade fein gewesen. Darum war es ihm auch peinlich – auch jetzt noch, nach all den Jahren. Denn wenn Leute seine Narbe sahen, dann fragten sie oft: woher, warum, wo, wann, wie… Und das war ihm jedesmal unangenehm. Er mochte nicht jedesmal davon erzählen. Darum blieb er oft zu Hause in seinem kleinen Gemach oben am Stall. Er hatte ja seine Tiere. Und die störten sich nicht an seiner Narbe – und fragten auch nicht – und waren erst noch dankbar für alles, was er für sie machte. Aber jetzt in dieser Nacht wäre er eigentlich gerne nach unten gegangen, um all die Menschen zu sehen, die da kamen und gingen. Dass so viele kommen, hatte er natürlich nicht gedacht, als er dem jungen Paar erlaubte, mit dem Kind in seinem Stall zu übernachten. Warum kommen denn so viele? Am liebsten wäre er nach unten gegangen – aus Neugier, aber auch aus einer gewissen Sorge um seinen Stall und seine Tiere. Aber er getraute sich nicht – wegen seiner Narbe – und vielleicht auch, weil er es sich nicht mehr so gewohnt war, unter Menschen zu sein.
Erst in den frühen Morgenstunden, als es wieder ganz ruhig war, ging er leise hinunter und schlich sich in den Stall. Von der Familie bemerkte ihn niemand. Sie schliefen alle. Nur die Tiere hatten ihn sofort bemerkt, freudig bemerkt, und waren nur erstaunt, dass er zu dieser
Zeit kam. Sonst war niemand mehr da. Darüber war er einerseits froh. Aber andererseits hätte er schon gerne gesehen, wer alles gekommen war. Er schaute sich um. Man merkt es einem Raum ja an, wenn viele Leute drin waren. Das Stroh war zertreten.
Und dort in der Ecke – was ist denn das? Es leuchtet. Der Stallbesitzer ging hin und hob es auf. Eine Krone! Eine Königskrone! Da muss ja sogar ein König im Stall gewesen sein und die Krone vergessen haben. Der muss aber sehr aufgeregt gewesen sein. Das passiert einem König sonst nicht, dass er seine Krone vergisst. Der Stallbesitzer setzte sich die Krone auf. Es sah ihn ja niemand. Das wäre doch ein anderes Aussehen, dachte er. Und die Narbe wäre auch zugedeckt! Im Stallfenster schaute er sich an. Und er war fast ein wenig stolz, dass er mit dieser Krone so gut aussah. Ja, wenn ich so etwas hätte, ginge ich auch mehr unter die Leute, dachte er bei sich. Aber diese Krone konnte er ja nicht behalten. So zog er sie wieder ab.
Er hatte nämlich bemerkt, dass die Familie aufgewacht war. Vielleicht haben sie ihn eben doch gehört. So ging er zu ihnen und fragte: «Wisst ihr, woher diese Krone ist? Ich fand sie dort in der Ecke im Stroh liegen.» «Es waren eben drei Könige hier», sagte Maria. «Wahrscheinlich hat einer die Krone vergessen. Die waren so aufgeregt: Lege sie doch wieder in die Ecke, vielleicht kommt der König noch einmal zurück.» Josef war da anderer Meinung: «Nimm die Krone doch mit – als Dank, dass du uns hier aufgenommen hast – und als Andenken an diese Nacht!»
Wenn ihr euch nicht einig seid, dann frage ich noch das Kind, dachte der Stallbesitzer. Und er setzte sich die Krone noch einmal auf, stellte sich vor das Kind und sagte: «Kleines Kind, sag du mir, was ich mit dieser Krone machen soll!» Das Kind strahlte und musste fast ein wenig lachen – wie wenn es gespürt hätte, dass diese Krone nicht ganz auf diesen Kopf passte. Und mit seinen grossen strahlenden Augen schaute es den Stallbesitzer an – und in diesen Augen spiegelte sich die Krone. Auch wenn es ziemlich dunkel war – der Stallbesitzer sah es gut, wie sich seine Krone in den Augen des Kindes spiegelte. Und auf einmal dachte er: «Eigentlich ist das wahr! Die wichtigste Krone ist das, was ein Mensch ausstrahlt. Die schönste Krone ist das, was ein Mensch ausstrahlt aus seinen Augen, aus seinem Innern, aus seinem Geheimnis – eine unsichtbare göttliche Krone.»
Da plötzlich klopfte es an der Stalltüre. Der Stallbesitzer nahm sofort die Krone vom Kopf und ging zur Tür – eigentlich ohne Angst — ohne Hemmung. Er war über sich selber überrascht. Und er machte die Türe auf. Und draussen stand, in einem wunderbaren Gewand, ein König, ohne Krone, dafür mit einer dunklen Haut. «Irgendwo habe ich meine Krone verloren oder vergessen!» «Ist sie das da?» fragte der Stallbesitzer und zeigte ihm die gefundene Krone, die er noch immer in der Hand hatte. «Natürlich», sagte der König, «wie bin ich froh, dass du sie gefunden hast!» Und der König strahlte über das ganze Gesicht. Aber noch mehr strahlte der Stallbesitzer – und sagte zum König: «Weisst du, heute Nacht habe ich zwei Kronen gefunden: deine und meine!» «Wo ist denn deine?» fragte der König. «Sieh mir in meine Augen! Meine Krone ist in meinen Augen, in meinem Geheimnis!» «Danke», sagte der König, «danke für diesen Gedanken.» Und er ging hinaus und verschwand in der Nacht, die Krone aber behielt er in der Hand. Und der Stallbesitzer ging noch einmal zum Kind. Die Krone hatte er nicht mehr. Aber es war ihm, wie wenn das Kind jetzt noch mehr strahlte als vorher – wie wenn in seinen Augen eine unsichtbare Krone leuchtete. Die habe ich auch, dachte der Stallbesitzer – und stieg in sein Gemach hinauf.

Ich stehe immer noch vor der grossen Schachtel mit den Weihnachtskostümen, in der Hand immer noch die glänzende Krone. Meine Gedanken sind abgeschweift – abgeschweift in jenen Stall. Dass auch Ihre Gedanken in dieser Weihnachtszeit immer wieder ab-schweifen und sich verdichten zu solchen Weihnachtsgeschichten – das wünsche ich Ihnen von Herzen.

Andres Boller