Die Franz-Carl-Weber-Meditation

Unsere diesjährige Weihnachtsgeschichte stammt von Ueli Greminger, dem Pfarrer am St. Peter, der vor vielen Jahren, in seiner Kindheit… – Doch lesen Sie selbst.

Zum Frieden auf Erden gehört das Bewusstsein, dass alles Leben vergänglich ist. Nichts dauert ewig. Wird nicht dann das Leben zu einem guten Leben, wenn es nicht ewig dauern muss? Das gute Leben setzt das Bewusstsein voraus, dass die Zeit kommt, da alles das, was einem im Moment so wichtig ist, einmal bedeutungslos sein wird. Dazu ist mir folgender Zusammenhang eingefallen: Da habe ich ihn wieder in den Händen, nach über vierzig Jahren. Er liegt zwischen Rechnungen, Briefen und anderem Werbematerial im Briefkasten: Der Franz-Carl-Weber-Weihnachtskatalog.

Abglanz vom Paradies
Entweder habe ich ihn in der Zwischenzeit nie mehr bekommen, weil ich nicht mehr in der Nähe wohnte, oder ich habe ihn erst jetzt wieder beachtet, weil ich wieder in der Nähe wohne. Wie ich ihn damals heiss ersehnt hatte, diesen Weihnachtskatalog, ich war im Kindergartenalter, wie ich mich damals auf ihn stürzte, von A bis Z durchblätterte, all die Geschenkartikel prüfte, mit einem Farbstift anstrich die Dinge, die möglicherweise und Dinge, die sicher auf den Wunschzettel gehörten. Der Höhepunkt der vorweihnächtlichen Wunschzettelzeit war der Besuch des Franz-Carl-Weber-Geschäftes an der Bahnhofstrasse. Dies war mein Weinachtsparadies, wovon die Geschenke am Heiligen Abend unter dem Christbaum dann ein bescheidener, aber immerhin ein Abglanz waren.
Zwar gaben sich die Eltern viel Mühe, uns Kindern den Sinn von Weihnachten mit Liedern, biblischer Geschichte und Kerzen beizubringen. Aber mich interessierte nur der Abglanz aus dem Weihnachtsparadies, der dann mir allein gehören sollte.
Einmal liess mich meine Mutter allein, in meinem Weihnachtsparadies an der Bahnhofstrasse. Um 16 Uhr sollte ich sie treffen auf der anderen Seite des Schanzengrabens, beim Kiosk des alten Bahnhofs Selnau.
In meiner Franz-Carl-Weber-Seligkeit geriet ich ausser Raum und Zeit, kam aus dem Staunen nicht heraus ob all der Märklin-Lokomotiven, Wagen, Brücken, Weichen, Kreuzungen, ob all der Fallerhäuser, Bahnhöfe, künstlichen Berge und Weiden, so vergass ich mich und kam dann eine Stunde zu spät zum Treffpunkt, wo meine Mutter, ausser sich, bereits den Vater aufgeboten hatte. Ach – die Franz-Carl-Weber-Seligkeit konnte mir niemand wegnehmen.
Sie kam mir dann allerdings bald darauf doch abhanden, diese Märklin-Eisenbahn- und Fallerhäuser-Seligkeit.

Veränderte Bedeutung
Ich spüre ihn jetzt, da ich den Weihnachtskatalog in den Händen halte, ganz genau – den Moment damals, da mich als Kind jene eigenartige Traurigkeit ergriff und nicht mehr losliess. Sie drang durch die Ritzen des Bewusstseins von Zeit und Vergänglichkeit und flüsterte mir zu: «Es kommt die Zeit, da werden dir all diese Dinge nichts mehr bedeuten.»
Ja – es war genau dieser Gedanke und der ganze Reiz des kindlichen Weihnachtsparadieses war erloschen und kam nicht wieder und kam nie mehr wieder.
Da liegt er also vor mir, der Franz-Carl-Weber-Weihnachtskatalog, und führt mich zur Frage, ob das Bewusstsein von Zeit und Vergänglichkeit mir einmal all die Dinge, die mir jetzt so wichtig sind und am Herzen liegen, genauso bedeutungslos werden lässt, wie es damals mit der Franz-Carl-Weber-Kinderseligkeit geschah.

Vergänglichkeit
Zum Anfang der Religiosität gehört das Bewusstsein um die Vergänglichkeit des Lebens. Die Konfrontation mit dem Tod von Jesus am Kreuz und deren Verarbeitung steht am Anfang der christlichen Religion. Dieser Anfang hat seinerseits eine Vorgeschichte im Leben von Jesus selbst. Zum Beispiel wird in den Evangelien beschrieben, wie Jesus nach der Taufe im Jordan vierzig Tage in die Einsamkeit der Wüste ging und dort den Schrecken des Alleinseins und den damit verbundenen Versuchungen widerstand.
Wenn das Bewusstsein der Vergänglichkeit und des Schreckens der Wüste über uns hereinbricht und wenn wir damit mutterseelenallein sind, was bleibt uns da noch? Die Betäubung, die Ablenkung, die Illusion, die Hinwendung zum Du.
Da wenden wir uns irgendwie in Gedanken, emotional hin zu einem Gegenüber, das wir in der Verzweiflung erfinden, das schon immer da war, das auch noch da sein wird, wenn es uns nicht mehr gibt.
In der Verbundenheit mit diesem ewigen Du kann ich die Vergänglichkeit des Lebens in ihrem doppelten Sinn annehmen. Da ist die unendliche Trauer, dass ich all die Dinge und all die Menschen, die mir so viel bedeuten und die mir am Herzen liegen, loslassen muss. Da spüre ich gleichzeitig die grosse Erleichterung, dass all die Angst, die solange ich lebe, immer auch mit dabei ist, dann ein Ende haben wird. Es kommt die Zeit, da all die Dinge, die uns jetzt so wichtig sind und all die Menschen, die uns so am Herzen liegen, bedeutungslos werden. Ist nicht dieses Bewusstsein der Anfang des guten Lebens?

Ueli Greminger


Diese Geschichte steht auch in Ueli Gremingers Buch «Wenn sicher Geglaubtes ins Wanken gerät. Gedanken und Geschichten zur eigenen Religiosität», erschienen 2009 im Orell Füssli Verlag.