Frauen am Telefon

Warum bloss essen und trinken, wenn man auch singen kann? Unsere zwei Kulinarier griffen in einem Karaoke-Lokal an der Selnaustrasse zum Mikrophon.

Herr Keck sass im Burberry-Pulli an einer Art weissem Gartentisch. Ich setzte mich zu ihm und bestellte einen «Blue Kamikaze». Der kostet, wie auf der Tafel stand, Fr. 14.90 statt 16.90. Die Mischung aus Wodka, Blue Curaçao und Bitter Lemon liess mich rasch vergessen, dass die Gartenstühle, auf denen wir sassen, von der härteren Sorte waren. Immerhin boten die Stühle gute Sicht auf den Flachbildschirm, das Kernstück des Lokals. Auf dem Schirm flirrten pausenlos Karaoke-Videos. In Karaoke-Bars wie dem «Lauschuli» singt das Publikum selber, und jeder ist drei Minuten lang ein Star. Das Wort «Karaoke» stammt aus dem Japanischen. «Kara» heisst leer, «oke» Orchester. Karaoke-Videos laufen mit Musik ohne Leitstimme, dafür mit Untertiteln, damit man weiss, wann man welche Zeile zu singen hat. Die Videos sind nicht die Originale, sondern zeigen das pralle Leben: Frauen am Telefon. Sonnenuntergänge. Eine Strassenkreuzung in Asien. Schweine (wirklich!). Das Meer. 08/15-Wolkenkratzer. Möwen. Ein frisch bezogenes Doppelbett im Einsternhotel. Palmen. Das Meer. Eine leere Badewanne. Und viele, viele Menschen, die sich übers Haar streichen und zu Boden blicken oder in die öde Ferne. Und manchmal sieht man Menschen, die den Handrücken an die Stirn pressen und deren Lippen sich zum O spitzen wie im Stummfilm.

Ping!
Die Gäste wählen aus einem Ordner ihr Lieblingslied aus. Das kann Stunden dauern, denn so ein Ordner enthält sechzig winzig beschriftete Seiten. Ping programmiert die gewählte Nummer, und die Gäste greifen zum Mikrophon - und geben alles. Sie singen lauthals Zeilen wie «Ich wurde von einer Rose geküsst» oder «Volle Möhre zwanzig Zentimeter» und immer wieder, immer wieder, immer wieder «Ai duuu it maaai weeei» von Frank Sinatra. Ping Neeser-Tsoi ist die Wirtin, sie führt seit Jahren mit ihrem Mann Ernst das «Lauschuli». Das Lokal liegt etwas abseits neben der Stiftung für konkrete und konstruktive Kunst und einer Drogenabgabestelle. Vielleicht erinnert man sich an das Kleidergeschäft von Frau Rottenberg mit den legendären Schaufenstern? Das «Lauschuli» liegt vis-à-vis.
«Hoch auf dem gelben Wagen» und «Lustig ist das Zigeunerleben» habe er nicht gefunden, tadelte Herr Keck nach Durchforsten des Liedergutes. Er bestellte einen weiteren Zweier Côte du Rhône (Fr. 11.90) und lobte: «Es isch en ächte Côte du Rhône! Es zieht mer s Muul zäme!» Er erinnerte sich all der schönen Stunden, in denen er die Gitarre zupfte und «My Bonnie» sang. Für 400 Franken pro Abend. Dann drehte er eine weitere Gabel Nudeln mit Crevetten und Gemüse auf (die «kleine Portion», die nicht so klein ist, Fr. 25.90), bis sein roter Teller «rübisstübis» leer war.

Paare singen sich an
Auf dem Bildschirm vor uns ging wieder die Sonne unter, zwei Paare sangen sich an, und ich kämpfte mit einem der sieben Pouletflügeli, die mit einer süss-sauren Sauce am Blechteller hafteten. Eine Stange (Fr. 5.90) war hilfreich, um dem Geflügel Herr zu werden. Nach jedem Ständchen brauste Applaus auf, dann war kurz Ruhe. Einmal hörte ich Herrn Keck sagen: «Pardon?» In der nächsten Pause sagte ich: «Ich werde Gebärdensprache lernen!» Dann schnappte ich auf: «Was sagten Sie gerade?» Und in der nächsten Pause meinte er: «Also morgen kaufe ich Phonak-Aktien!» Phonak ist ein Hersteller für Hörgeräte.
Da Herr Keck etwas verschnupft war, liess er den Abend früher ausklingen als gewohnt. Und so verpasste er, wie ich zum Mikrophon griff. Der Applaus war schwach. Vielleicht hätte ich doch «My Way» nehmen sollen statt «Schnappi, das kleine Krokodil».

René Ammann

Lauschuli’s Karaoke-Bistro, Selnaustrasse 29, 8001 Zürich, Montag bis Sonntag 16 Uhr bis 4 Uhr. 49 Plätze. Tel./Fax 044 212 80 39, Mobiltelefon 079 402 98 06, www.karaoke-lauschuli.ch.

*René Ammann und Peter Keck essen und trinken jeweils zu zweit, weil es geselliger ist. Einmal schreibt Herr Ammann, dann wieder Herr Keck.