Die magischen Orte

Unser Gastschreiber dieser Nummer führt uns an seine magischen Orte in der Altstadt und hängt gleich noch eine Wunschliste an.

Von Beat A. Stephan
«Nein, also ich könnte nie in der grossen Stadt leben», entsetzen sich Landeier, wenn sie erfahren, dass ich im Niederdorf wohne. Sie können sich nicht vorstellen, dass ich mich in einem viel kleineren Kosmos als sie bewege. Ein Grossteil meines Lebens spielt sich in «Walking Distance» ab, wie der Grieche sagt, in einem Radius von ein paar hundert Metern: Vom «Marion» über Nanopoulos und Zgraggen bis zu Bertschi und zurück zu Emilio ins «Dynasty». – Zur Arbeit gehts ein bisschen weiter: Vom Central bis zum Limmatplatz.
Ennet dem Jordan, also links der Limmat, bin ich relativ selten anzutreffen. Doch vor kurzem wagte ich mich an einem Samstag rüber: Vom Limmatquai-Markt über die Brücke Richtung Urania und dann hoch zur Oetenbachgasse.

Luxus im Lädeli
Ja, ich gebe es zu: Ich besuche dort ab und zu Dieter Meiers Weinkontor, obwohl dies kein alteingesessenes Geschäft ist. Ich geh hin, weil der Laden mich wunderbar nostalgisch stimmt und weil es dort, wie bei Schober oder Schwarzenbach, köstliche, kostbare Sachen gibt, die man nicht wirklich dringend braucht. Das ist ja das Tolle am Luxus. Und ja, natürlich gehe ich auch ins Weinkontor, weil Dieter Meier ein intelligenter, selbstironischer Weltbürger ist; Boris Blank für Yello aus Geräuschen geniale Musik komponiert, die sich selbst nie todernst nimmt; Patrizia Fontana Ravioli erschafft, bei denen man merkt, was drin ist, ohne erst die Packung konsultieren zu müssen; ich als Journalist berufsbedingt neugierig bin und Meiers legendäres argentinisches Ojo-de-Agua-Beef degustieren wollte. Othmar Zgraggen wird mir dieses Fremdgehen verzeihen.

Die verzauberten Gassen
Doch der eigentliche Grund meines Ausflugs ans linke Limmatufer ist ein anderer. Es ist die Kaminfegergasse, ein winziger Durchgang, der zu den geheimnisvollsten der Stadt gehört. Eines Tages stieg ich die Treppe hoch in das handtuchschmale Gässchen, ein wundersam gleissendes Licht schlug mir entgegen. Ich war wie hypnotisiert. Plötzlich rannte, passend zur Kaminfegergasse, ein lachender, schmutziger «Spazzacamino» an mir vorbei. Ich glaube heute noch nicht, dass dies bloss eine Fata Morgana war, hervorgerufen durch das flirrende Sonnenlicht. Auf jeden Fall gehört die Kaminfegergasse seit diesem Tag für mich zu den verzauberten Orten der Stadt, ähnlich wie die Trittligasse, die ich für nächtliche Spaziergänge bevorzuge.
Überhaupt haben bedeutende Gassen in Zürich oft seltsame Namen. So nahm beispielsweise an der Blaufahnengasse eine weltweite Revolution ihren Anfang: Als dort damals ein John-Valentine-Fitnesscenter die Türen öffnete, brach in der Schweiz ein Sturm der Empörung los. Krafttraining sei etwas für dekadente Spinner und werde sich in der Schweiz nie durchsetzen, lautete der Tenor. Das Schweizer Fernsehen strahlte zum Thema einen ätzend bösen Beitrag aus. Und heute? Heute wird man von den Jungen als Alien oder als fauler Sack betrachtet, wenn man nicht Mitglied in einem Fitnessclub ist. Tempora mutantur nos et mutamur in illis oder so sagen die Franzosen dazu, oder war das Latsch?

Kampfknutschen
A propos Lateinisch: Der Lindenhof gehört nicht wegen der geheimnisvollen Grabinschriften zu meinen magischen Plätzen, sondern wegen einer amourösen Verwicklung, die ich dort in meiner Pubertät erlebte. Wie sich das in diesem Alter gehört, war ich gerade sterblich verliebt. Auf dem Lindenhof-Bänkli, mit Sicht über die Altstadt, geschah es dann: Der erste, zärtliche Kuss, der zweite, leidenschaftlichere… Das Ganze entwickelte sich: Selbstverständlich kam es nicht zu im engeren Sinne unsittlichen Handlungen, aber doch zu einem tumultösen Hardcore-Geknutsche. Und die Welt um uns herum versank in Hormonfluten.
Als wir wieder auftauchten, hatte sich, genau uns gegenüber auf dem Mäuerchen, eine Gruppe Erwachsener niedergelassen: Plaudernd, rauchend. Wie wir uns schämten! Damals schämte man sich noch. Als dann einer spöttelnd fragte, ob wir kein Zuhause hätten (natürlich hatten wir kein sturmfreies Zuhause, wir lebten ja noch bei den Eltern), drückten wir uns umso fester aneinander. Wir wurden durch den gemeinen Spott noch enger zusammengeschweisst. Schweigend trotzten wir dem Hohn und harrten aus, bis die Gruppe verschwunden war. Damals war das Erlebnis super peinlich, heute beschert es mir ein verklärtes Lächeln – und die Erkenntnis, dass man über Jungverliebte niemals spotten sollte. Selbstverständlich verrate ich nicht, wer da auf dem Bänkchen mit von der Partie war. Das gebietet nun mal die Alte Schule.

Die Altstadt-Pendenzen
Ich liebe die Altstadt. Und gerade darum stelle ich abschliessend noch eine To-Do-Liste auf mit Dingen, die subito geändert werden müssen:
– Der Typ vom Zeltweg-Quartier soll den Widerstand gegen das autofreie Limmatquai aufgeben, so dass wir dort flanieren können, ohne uns an stinkenden Kolonnen vorbeizwängen zu müssen.
– Autofrei werden sollten auch Zähringerplatz und Münsterhof. Eine Neugestaltung täte auch dem Bellevue und dem Central gut.
Natürlich träume ich noch von weiteren Verbesserungen:
– Von einem nichtkastrierten «Odeon» in alter Grösse.
– Von einer Altstadtpost als Ersatz für die Mühlegasse.
– Von einem sich in Nichts auflösenden Globus-Provisorium.
– Von einem Wald mitten in der City, in dem ich joggen gehen könnte.
– Und von einer Innenstadt ohne jene Neuzuzüger, die nicht wahrhaben wollen, dass sie in ein lebendiges Quartier gezogen sind und dauernd rummotzen, weil sie glauben, sie müssten abends um acht bei offenem Fenster schlafen können.


Unser Gastschreiber
Beat A. Stephan (1961) ist in Kloten aufgewachsen, wo er bis zur Matur wohnte. Danach zog er nach Zürich, an die Rosengartenstrasse, wo er es einige Jahre aushielt. Seither findet er es überall sonst angenehm ruhig. Nach dem Germanistikstudium reiste er durch die Welt. Dabei arbeitete Stephan unter anderem als Streetworker, spielte Strassentheater, verkaufte selbst verfasste Instant-Romane auf der Strasse und erkundete die Südsee. Nach seiner Rückkehr war er rasender Reporter für verschiedene Zeitungen, und er schrieb zu allen möglichen Themen. Daneben war der mehrfache Curling-Schweizermeister Redaktor des Magazins Curling. Für die Migros verfasste er das Buch «Feste im Alpenraum». Heute arbeitet er beim «Brückenbauer», als Chef vom Dienst, und für das SP-Magazin Links.ch. Stephan wohnt seit 16 Jahren in einer WG im Niederdorf.
Foto: EM