Ein Basler im Niederdorf

Unser Gastschreiber Thomas Heilmann lebt seit Jahrzehnten in Zürich, auch wenn man ihm das nicht sogleich anhört. In der Altstadt fühlt er sich heimisch.

Kürzlich fragte mich am Ende einer Sitzung in der Zürcher City ein Mitsitzender besorgt: «Erwischen Sie den Zug noch?» «Ich brauche keinen Zug, um nach Hause zu kommen», war meine Antwort. Worauf mein Gesprächspartner meinte: «Aber mit dem Zug ist es doch viel bequemer als mit dem Auto.» «Nein, ich bin mit dem Velo da.» «Sie fahren mit dem Velo nach Basel? Bei diesem Wetter?» «Ich fahre nicht nach Basel, sondern auf die andere Seite der Limmat ins Niederdorf, wo ich wohne.» «Sie haben aber einen Basler Dialekt und wohnen in Zürich…» Mein Gesprächspartner hatte übrigens einen unüberhörbaren Berner Akzent.
So ist es. Seit nun 35 Jahren lebe ich in Zürich, davon über 25 Jahre am Neumarkt. Was hier in Zürich als Basler Dialekt identifiziert wird, gilt in meiner ursprünglichen Heimat- und Herkunftsstadt schon lange nicht mehr als das. «Bahnhofbuffet Olten» hätte man vor Zeiten, als alle Züge dort noch hielten, diesen Mischmasch genannt. Ich gebe offen zu: ich habe mich nie genötigt oder bemüssigt gefühlt, meinen mündlichen Ausdruck bewusst anzupassen. Mit einer Ausnahme vielleicht. Ich sage nicht mehr, wenn man mich fragt, was ich bei der ZKB mache, ich sei im «Bank-Root», wie das auf Baseldeutsch lauten würde, sondern Züridütsch «Bank-Rat», weil ersteres in Zürcher Ohren doch sehr verdächtig nach etwas klingt, was wir bei der ZKB tunlichst zu vermeiden bemüht sind – mit recht viel Erfolg, darf ich beifügen.

Ankunft als Revoluzzer
Ich bin – ich gestehe es, auch wenn es heute schon fast verpönt ist – in meiner Eigenschaft als Achtundsechziger nach Zürich gekommen, weil in der politischen Gruppierung, der ich damals angehört hatte, in messerscharfer Analyse erkannt worden war, dass Basel nicht der Nabel der Schweiz, geschweige denn der Welt; dass demzufolge dem revolutionären Auftrag im «Kopf des Monsters» (Jean Ziegler) nachzuleben sei. Und so verschlug es den jungen Revoluzzer nach Zürich. Dort blieb er der Liebe wegen, die bis heute gehalten hat, hängen und lernte das in der dünkelhaften Humanistenstadt als banausisch verschriene «Limmat-Athen» lieben. Besonders, seit ich am Neumarkt wohne.

«Patchwork-Heimat»
In den letzten Jahrzehnten haben sich viele Menschen aus ihrem auf Blutsbanden begründeten Familienverband mehr und mehr gelöst und sich im optimalen Fall mit anderen auf Grund von diversesten kulturellen Gemeinsamkeiten, Vorlieben, Abneigungen und Prägungen zu Quasi-Familien zusammengefunden. Dieses soziologische Phänomen trifft auch auf den Begriff «Heimat» zu. Diese ist vielfach nicht mehr einfach durch die Herkunft gegeben; sondern wir schaffen uns eine solche, so etwas wie eine «Patchwork-Heimat»; denn im Gegensatz zur traditionellen, «natürlichen» Heimat mit ihrer schwer lastenden Blut- und Bodenhaftigkeit setzt sich diese neue «Patchwork-Heimat» aus vielen selbst gewählten – und auch aus Zufall sich ergebenden – Elementen zusammen. Dazu gehören selbstverständlich viele Menschen, aber auch Institutionen und Orte. Der Vorteil dabei ist, dass wir bei der Bildung dieser neuen Heimat nicht alles, was – und alle, die es da in der Umgebung gibt, da hinein nehmen müssen. Wir treffen eine Auswahl, und mit der Zeit kommt etwas dazu und anderes verschwindet.
Das Niederdorf ist nun der Idealfall für die Bildung einer solchen neuen Heimat. Es ist fast alles vorhanden, was es dazu braucht, von den Läden wie demjenigen von Helen Faigle (auch wenn leider einige andere bedauerlicherweise verschwunden sind wie Bianchi oder Müedespacher) über die kulturellen Institutionen, die Beizen und die lebenswerten Orte. Zum Beispiel unser «Höfli», wo die Anwohnerinnen und Anwohner ohne jede Hausordnung und Platzzuweisung im Frühling und im Herbst die Sonne geniessen und im Sommer lauschige Abende verbringen. Oder der Rechberggarten, den wir uns nicht nehmen lassen wollen. Oder der Altstadtturnverein, ins Leben gerufen durch den leider verstorbenen Roy Bosier. Das wichtigste aber für das Gelingen dieser neuen Heimat hier im Niederdorf ist die Art und Weise, wie die Menschen hier miteinander umgehen, wozu eben ganz wichtig auch gehört, dass man sich auf durchaus freundliche Weise ignorieren kann. Es gibt keinen Zwang zur Gemeinschaft aller mit allen – mit allen damit verbundenen Gräueln. Es gibt die verschiedensten Gemeinschaften, die von einander gar nichts wissen müssen. Aber irgendwann, zum Beispiel am Neumarktfest, kommt es zu Begegnungen, und man lernt jemanden kennen, der schon seit Jahren kaum drei Häuser weiter wohnt. Alteingesessene gehören zu dieser Heimat, aber immer mehr auch Menschen, die aus andern Gegenden und Ländern hierher gezogen – und hier eben heimisch geworden sind.

Zuzug aus dem Norden
Natürlich ist nicht einfach alles «Friede, Freundschaft, Eierkuchen». Das Niederdorf ist zum Glück keine Idylle. Aber es ist auf keinen Fall der Zuzug aus dem Norden, der stört. Das möchte ich aus aktuellem Anlass betonen. Die Zuwanderung aus zig Ländern hat Zürich eine kulturelle Vielfalt beschert, die man nicht mehr missen möchte. Nun hat sich aus vielen Gründen eine Situation ergeben, dass Zürich zu einem Anziehungspunkt für Deutsche geworden ist, die hier arbeiten und leben möchten.
Das ist nicht nur im Finanzsektor so, sondern besonders auch in der Kultur. Es handelt sich hier nicht
um eine Immigration aus wirtschaftlicher oder anderer Not, welche an unsere humanitäre Ader appelliert, aber uns Schweizerinnen und Schweizern ein Gefühl der im besten Fall wohlwollenden Überlegenheit vermittelt. Es ist eine Immigration auf «Augenhöhe», wie es heute so schön heisst. In dem kleinen Verlag, wo ich den grössten Teil meines Arbeitslebens verbringe, befindet sich unter sieben Leuten keine einzige Zürcherin oder kein einziger Zürcher (dafür zwei Deutsche); und doch begreifen wir uns – werden auch so gesehen – als Teil der Zürcher Buchkultur. Ich sehe also in dieser neuen Immigrationswelle vor allem eine Chance, und auch eine Bereicherung für meine hier gefundene Heimat.

Thomas Heilmann

Unser Gastschreiber
Thomas Heilmann (1949) ist in Münchenstein und Basel aufgewachsen, wo er nach der Matur am Humanistischen Gymnasium an der Universität Volkswirtschaft studierte. 1973 kam er aus beruflich-politischen Gründen (POCH) nach Zürich, wo er in den ersten Jahren in Wipkingen, Oberstrass und Oerlikon wohnte, bevor er 1982 zusammen mit Ingrid Schmid (seit 1995 verheiratet) an den Neumarkt zog. Heute arbeitet er hauptberuflich als Geschäftsleiter im Rotpunktverlag, den er vor über dreissig Jahren mitbegründet hatte. Über den Outdoorladen Transa, die ethisch-nachhaltige Pensionskasse NEST, die Alternative Bank ABS, zu deren Gründern er ebenfalls gehört, gelangte er als Grüner in den Bankrat der ZKB (seit 2003).Was er aber am besten kann (und am liebsten macht neben Wandern in den Bergen und Velo- und Hausbootreisen in Europa), ist Kochen, sagt der Weinliebhaber.
EM