Was die Altstadt und Thalwil gemeinsam haben

Aus demselben Grund, aus dem es unserem Gastschreiber fünfzehn Jahre lang in der Altstadt gefallen hat, wohnt er jetzt gerne am Zürichsee.

Das Wohnen in der Altstadt hat ja viele Vorteile: Altehrwürdige Häuser mit originellen Wohnungen (manche sogar bezahlbar) sowie eine witzig-knorrige Bevölkerung, die keine Mühe hat, auch freche Meinungen ohne falsche Rücksichtnahmen zu äussern. Vor allem aber sorgt die enorme Nähe zu allem und jedem für eine absolut sensationelle Lebensqualität. Ob ins Theater oder ins Kino, in die Badi oder aufs Amt, zum Einkauf oder ins Restaurant: Immer ist alles praktisch vor der Haustüre verfügbar. Und wenn man einmal wirklich weit weg will, in den Wald etwa oder nach Amerika, sind auch die nötigen Transportmittel in wenigen Minuten erreichbar.

Vom Nachteil des Vorteils
Der Vorteil kann allerdings auch zum Nachteil werden. Als ich mit meiner damaligen Frau und der zehn Monate alten Tochter aus Platzmangel in ein «Hüüsli» nach Altstetten auswanderte, versicherten uns viele langjährige und wirklich liebe Nachbarn beinahe unter Tränen, sie würden uns unendlich vermissen. Genau ein einziger schaffte es dann, uns exakt einmal in unserem Exil zu besuchen (weil er zufällig in der Nähe arbeitete). Fünfzehn Minuten Tramfahrt kommen einem Altstadtbewohner eben wie eine Weltreise vor, und er steckt zur Sicherheit auch noch den Pass und ein wenig Proviant ein, wenn die Expedition über die Kreis-1-Grenze hinausgehen soll.
Somit hat ein Exodus nach Thalwil wohl einen ähnlichen Stellenwert wie eine Reise zu einem entfernten Planeten. Nicht zu fassen! Wahrscheinlich hätte ich pausenlos Besuch von Ex-Nachbarn, wenn ich in Berlin, San Francisco oder Sydney wohnen würde, da sie dort eher vorbeikommen als in der – wääk! – Provinz. Dabei sind meine Türen hier genauso offen wie früher und das «T-Kaff» ist durchaus einen Besuch wert, vor allem weil es eine grosse Gemeinsamkeit mit der Altstadt teilt: Es macht es einem ebenso leicht, auf das Auto zu verzichten wie der Kreis 1.

«Autostabil»
Stichwort Auto, Kürzel für Automobil, also «Selbstbeweger». Mal ehrlich: Wessen Auto in urbanen Verhältnissen bewegt sich durchschnittlich mehr als eine halbe Stunde im Tag? Dafür kostet das korrekterweise als «Autostabil» zu bezeichnende Gefährt einen Haufen Geld, mindestens 10 000 Franken im Jahr (Amortisation, Garage oder Parkplatz, Steuern, Versicherungen, Vignette, Ersatzteile, Reparaturen, Parkbussen und so weiter), bevor es nur einen Meter weit gefahren ist. Ein ökonomischer und ökologischer Schwachsinn, teuer und weitgehend nutzlos. In der Altstadt braucht man keinen derartigen Geldfresser, darüber sind wir uns wohl einig. In Thalwil ebenfalls nicht. Dreihundertfünfzig Züge im Tag, hat einmal jemand ausgezählt, halten fünf Gehminuten von meiner heutigen Bleibe entfernt, vier S-Bahnen sowie eine Schwetti Schnellzüge aus Luzern oder Chur. Und am Wochenende nach Mitternacht noch die Nachtzüge. Alles in allem dreissig Minuten Reisezeit von zu Hause bis in die «Tina»-Bar, das ist rascher als von Höngg oder Leimbach aus, von Schwamendingen gar nicht zu reden.

Wahre Lebensqualität
Thalwil hat aber noch mehr an Lebensqualität zu bieten, was der Altstadt zum Teil verloren gegangen ist. Wo sind zum Beispiel Bianchi und Bertschi? Bei «uns» auf dem Land gibt es noch Geschäfte, deren Angebote es in der Altstadt nicht mehr gibt. Es hat zwar auch ein Übermass an Kleiderläden (das ist eine weltweite Seuche), dazwischen aber doch noch Handwerk und sogar ein Haushaltgeschäft wie ganz früher Erpf und länger noch Ditting oder Séquin-Dormann.
Damit komme ich allmählich der Frage näher, womit eigentlich die Lebensqualität zu messen ist. Amtliche Statistiker berechnen das Durchschnittseinkommen, vergleichen es mit den Lebenshaltungskosten und – voilà – wissen, wem es am besten geht und wer somit am glücklichsten zu sein hat. Weil es in Hongkong, Singapur und Kuwait mehr Millionäre pro Quadratmeter gibt als in der Schweiz, sind die Leute dort glücklicher, lautet die Gleichung.
Lieber würde ich einen Faktor Menschenkontakte-pro-Flächeneinheit als Glücks-Messeinheit vorschlagen (falls es das überhaupt braucht). Wenn ich durch die Altstadt spaziere (auch heute noch und wohl bis zu meinem Lebensende), treffe ich regelmässig zahlreiche
Ex-Freundinnen, Ex-Nachbarn und sonstige Bekannte, die ich vor fünfundzwanzig und mehr Jahren auf diesem kleinen Stück Land kennengelernt habe. Die Freude, sich wieder zu sehen, ist jeweils durchwegs beidseits. Das obligatorische «Was-machsch-wie-gaahts?» empfinde ich tiefgehender als anderswo. Das kommt für mich dem wahren Glück näher als ein fettes Bankkonto.
Ich glaube, den Grund dafür zu kennen. Es ist die Unperfektheit der Wohnungen in der Altstadt. Viele haben keinen Balkon, sind eng, dunkel und einfach nicht so, wie es im «Schöner Wohnen» auf Hochglanz als erstrebenswert dargestellt wird. Also gehen die Bewohnerinnen und Bewohner raus, sitzen in die Kneipen und lernen sich da rasch und problemlos kennen. Das ergibt über die Jahre eine Nähe zur Nachbarschaft, die es in «perfekten» Quartieren nicht gibt.
Und Thalwil? Ich bin ja jeweils fast aus der Haut gesprungen, als ich
von wildfremden Leuten auf der Strasse gegrüsst wurde, manchmal sogar von Schulkindern. Einfach so, weil das auf dem Land so üblich war und vereinzelt noch ist. Man trifft den Ladeninhaber im Krafttraining, die Migros-Kassierin an der Vernissage, den Gemeindeschreiber beim Posten.
«Dörfli» sagen wir der rechtsufrigen Altstadt, und dörflich in diesem guten Sinne ist auch Thalwil.

Georges Müller


Unser Gastschreiber
Georges Müller (1948) hat von 1969 bis 1984 in der Altstadt gewohnt. Er ist Journalist und gehörte mit anderen Berufskollegen (namentlich des Schweizer Fernsehens) zu den ersten Boule-Spielern auf dem Lindenhof und war auch im Vorstand des Quartiervereins aktiv. Später ärgerte er sich dermassen über die damalige Quartierzeitung «Zürcher Altstadt», dass er zusammen mit anderen die Gründung des Altstadt Kuriers anpackte, als dessen erster Redaktor er drei Jahre wirkte.
Als seine im August 1983 geborene Tochter zu kriechen begann, wurde seine in einen ehemaligen Zunfthaussaal gebaute Wohnung an der Stüssihofstatt zu eng, und er verliess die Altstadt.