Ein Biotop, genannt «Dörfli»

Unser Gastschreiber Christian Prack hat eine ungewöhnliche Biografie. Uns er fragt sich, wo das Leben stattfindet. Muss man diesem nachreisen oder springt es einen ganz von selbst an?

In meiner Kindheit war ein Besuch bei Freunden zum Kaffee – vier Autofahrstunden hin und genauso viele zurück – die normalste Sache der Welt. Kein Wunder in einem Land gute dreissig Mal grösser als die Schweiz. Und für alle grün Empörten: ÖV existierte leider nicht. Später Familienzusammenkünfte nur möglich per Flugzeug zwischen Afrika, Südamerika und Europa. Hätte man mir damals gesagt, dass ich einen guten Teil meines Lebens einst in einem einzigen Quartier verbringen würde, zu Fuss pendeln am Rindermarkt und Neumarkt, Wohn- und Arbeitsort in 70 Meter Gehdistanz, manchmal wochenlang keine andere Kulisse als die altehrwürdigen Häuser unseres Quartiers; «solch eine Person müsste man für verrückt erklären», hätte ich gedacht.
Und doch: Seit 1976 lebe ich mit meiner Partnerin Agathe im Biotop, genannt «Dörfli», tauschte die Froschperspektive interimistisch für die vorgeschriebenen Semester mit der Totale, dem Überblick von der Uni aus, wagte sogar für mehrere Jahre eine tägliche berufsbedingte Expedition an den Kreuzplatz. Und stellte fest: Tram fahren im frühmorgendlichen Stadtverkehr, sei es auch nur drei, vier Stationen weit, ist meistens eine Zumutung.

Privilegien und Nachteile
Nicht erst seit der Euro 2008 habe ich immer wieder konstatiert, dass wir hier im Auge des Zyklons leben. Rund um uns herrscht im besten Fall rege Betriebsamkeit, normalerweise Hektik, bekriegen sich Verkehrsteilnehmer in endlosen Staus. Zumindest sagt man mir das in den Nachrichten des Lokalradios und ich räkle mich um 6.30 Uhr beim ersten Morgenkaffee noch einmal im Bett, hämisch grinsend.
Natürlich geniessen wir hier Privilegien, wie sie sonst wohl kaum irgendwo zu finden sind. Alle wichtigen Stationen zu Fuss erreichbar, ob für den täglichen Bedarf, fürs Vergnügen oder die Erholung. Man kennt sich, grüsst sich (meistens), verweilt für einen kurzen Schwatz, der dann doch oft viel länger dauert, versauert nicht in der Anonymität, bekommt auch selbstlos Hilfe angeboten. Ein ordentliches, kampferprobtes, gut vernetztes Trüppchen, auch bekannt als AltstadtbewohnerInnen, sorgt für innere Ordnung und wehrt äusseren Unbill meist erfolgreich ab. Die Freunde und Bekannten pilgern ins Zentrum, besuchen uns, wollen fünfhundertjährige Wohnungen mit viel Cachet und einigen Inkonvenienzen bestaunen; Liebhaberobjekte, das bedeutet teuer, dafür unmöglich. Fremde spült es zufällig oder gewollt in unser Gallisches Dorf, um sich köstlich zu amüsieren oder auch einmal deftig Prügel zu beziehen. Und ich halte Hof, obwohl mir für das huldvolle Zuwinken der Balkon in der Belle Etage fehlt. Dafür nehmen einige von uns auch kleinere oder grössere Nachteile in Kauf. Günstiger Wohn- und Gewerberaum wird leider immer knapper, die schrulligen Originale und schrillen Lebenskünstler sind an den Rand gedrängt. Einige Lärmgeplagte erwägen vielleicht, sich vom Sauglattismus zu verabschieden, aber Flugzeuge in Glattbrugg sind auch keine Alternative.

Flora und Fauna
Wenn ichs mir recht überlege, ein bisschen zoologischer Garten sind wir schon. Ein buntes, eigenes Völkchen, Artenreichtum garantiert, von der zahmen Zwergziege über den brummigen Bären, den röhrenden Platzhirschen, eitlen Pfau bis zur zischenden Giftschlange. Nicht zu vergessen die missgünstige Hyäne. Solange ich mich auf meinen Wildwechseln im Altstadtdschungel vorsehe, der Gefahr ausweiche, mich in Deckung begebe und nur selten zubeisse, ist ein Überleben möglich. Schliesslich kenne ich viele Winkel, jede Abkürzung, aber auch den berühmten kleinen Umweg, und man hat ja auch noch echte Freunde, die schlimmstenfalls Feuerschutz gewähren. Ja, manchmal erschauere ich wohlig bei der Vorstellung, mich bewusst dem Risiko auszusetzen, im Krokodilteich einer Quartierkneipe zu schwimmen, am Container fürs Altglas gestellt zu werden, nächtens empathisch auf eine traurige Hundehalterin einzugehen, sich dem listig-schlauen Fuchs, genannt Nachbar, zu konfrontieren, der genau vor den Sommerferien an mich denkt (sonst nie) und treuherzig die Pflanzenpflege erbittet. Als Anwohner und Selbständigerwerbender kenne ich die Bedürfnisse der hier lebenden Flora und Fauna ziemlich gut und zwar von beiden Seiten; nicht immer sind diese kongruent. Stets von neuem ist man gezwungen, diplomatisch scheinbar oder wirklich Gegensätzliches auszutarieren, keinem zu stark auf die Füsse (Flossen, Pfoten) zu treten und sich trotzdem durchzusetzen. Es gehört beachtliches Geschick dazu, die richtigen Seilschaften zu finden: wer, wann mit wem und vor allem auch wo, das ist die hohe Kunst, in der man natürlich ab und an scheitern muss. Dabei nützt auch das sich virtuos aus allem Heraushalten nichts, weil dann die Gerüchteküche erst recht zu brodeln beginnt – Hören Sagen ist halb gelogen. Und deshalb scheint es wohl ratsam, sich grundsätzlich um sein Image zu foutieren.

Verwurzelung
32 Jahre Altstadt; wir haben es lange ausgehalten und hoffen, auch weiterhin hier leben zu können. Wenn man bedenkt, dass es laut Habitués 20 Jahre ununterbrochenen Domizils bedarf, bis man als Einwohner im Kreis 1 zum Stammadel gehört, dann sind wir sozusagen bereits auf der Aborigine-Stufe angelangt. Diese Verwurzelung hätte ich aufgrund meiner familiären Konstellation nie für möglich gehalten. Oft liebe ich mein Dörfli, manchmal hasse ich es. Gleichgültig ist es mir jedenfalls nicht und als Psychologe lernt man schliesslich, dass starke Emotionen, egal in welche Richtung, immer auch eine enge Bindung bedeuten. ꆱ

Christian Prack