Gibt es kein richtiges Leben im Auswärtigen?

Des Stadtwanderers religionskritische Reflexionen oder die Gretchenfrage der Identität.

Lieber Strandläufer

Hier irrte der Strandläufer: «Wobei zu sagen ist, dass Religion bis anhin in unserem brieflichen Wechsel noch kaum ein Thema war.» Das ist katzfalsch. Denn erstens ist meine Schreibe mit katholisch-konservativen Anspielungen durchtränkt. Die, das gebe ich zu, erfordern zum Verständnis einige Jugendjahre lang Ministrant gewesen zu sein und das erst noch mit offenbarungsdurstiger Seele. Ich war also nicht bloss am Messwein interessiert wie du (deine Darstellung).
Zweites sind wir beide Anhänger der Dörflireligion. Ihr Glaubensbekenntnis hat nur einen Satz: Ausserhalb der Altstadt ist kein Heil. Wenn du es zeitgemässer formuliert haben willst: Es gibt kein richtiges Leben im Auswärtigen. Heute nennt man diesen Glauben Identität. Ein Wort, das sich in jeder Seelenlage anwenden lässt, ja geradezu einer religiösen Tröstung entspricht. Es ist die feste Burg der Gerechten.
Doch will ich nicht rechten und von etwas anderem schreiben. Vermutlich hast du recht, wenn du zu bedenken gibst, einzig die Wirtschaftsflüchtlinge würden die Altstadt verlassen, von den hohen Mieten vertrieben. Das ist der Preis der Zentralität. Immerhin kann man sich bei dieser Vorzugslage das Kaufen, Fahren und Unterhalten eines Autos sparen, was, wenn man richtig kalkuliert und nicht dem Selbstbetrug huldigt, wie das die Autofahrer gewohnheitsmässig tun, einen schönen Zustupf an die Miete ergibt und sozusagen einem persönlichen Steuerausgleich entspricht. Man kann auch auf das Bezahlen der Fernsehkonzession verzichten, nicht aus Überdruss am Programm oder gar aus ordnungspolitischen Bedenken, nein, bloss deshalb, weil ja im Dorf immer genügend Unterhaltung vorhanden ist. Das ist der persönliche Kulturbonus.
Die Mitglieder der losen Barkante allerdings zahlen dabei doppelt. Sie zinsen viel und sind darüber hinaus noch von überrissenen Bier- und Weinpreisen geplagt, Typ das Glesli offenen Roten für Fr. 6.– oder noch raubkapitalistischer, der Café crème für fünf Stutz. Wir beide kennen die Wasserlöcher (dein Wort), die man aus finanzieller Sicht eigentlich meiden müsste, sie aber der Gäste wegen trotzdem aufsucht. Der Spargeist ist willig, doch das Sozialfleisch ist schwach.
Notwendige Anmerkung: Ich hoffe, du hast die religiöse Herkunft dieses Satzes bemerkt. Wenn nicht, musst du nochmals als Ministrant beginnen.

Mit religionskritischen Grüssen:
Dein Stadtwanderer