Lyrische Ernte

Der Aufruf zur Dichtung in der letzten Nummer ist gehört worden.

Literarisch ist die Altstadt eine fruchtbare Gegend und auch allgemein menschlich kein Holzboden. Es spriessen da Gedichte von grossem Atem, trotz kleiner Form. Eugen Kohler zum Beispiel warf diesen Vers von des Menschen Geworfenheit:
Es gab einen Mann im Niederdorf,
der wurde genannt der Miederworf.
Er küsste die Damen
im üblichen Rahmen
bis eine zwei Knaben niederworf.

Doch nun zur Ergänzung des grossartigen Gedichttorsos, den uns Raymond Praktisch hinterlassen hat. Aus der Fülle des der Redaktion zugesandten Dichtgutes hat der Stadtwanderer ausgewählt und ordnet nach den Jahreszeiten:

Frühling
Wie fröhlich singt die Amsel heut,
viel Müdigkeit befällt die Leut. (Felix Landolt)

Die Chrottenpöschen leuchten hell,
die Herzen schlagen mega schnell. (Eugen Kohler)

Sommer
Die Sonne heiss vom Himmel scheint,
auf warmem Stein die Schnecke weint. (Cornelia Oss)

Sieh, von der Stirne rinnt der Schweiss,
die Menschen kleiden sich in Weiss. (Felix Landolt)

Einen besonderen Fall von Cross Culture, was hier mit mündlicher Tradition zu übersetzen ist, zeigt das Gedicht unseres Sportreporters:
Es märzet schwer am Himmelsbogen,
der Has ist Eier posten gogen. (Remy Roos)

Die intellektuelle Redlichkeit verlangt, dass dieses runde Werklein seinem Vorläufer gegenübergestellt werden muss. Dann wird die Translation eines Endreims offensichtlich. Gewisse Wendungen überzeugen durch ihre Worterfindung und wandern als Versbaustein von Beiz zu Beiz. Es gibt auch ein lyrisches Unterbewusstsein:

Die Sonne scheint am Himmel oben,
die Magd ist Wasser holen gogen. (Charles Anton Krenn)

Obwohl nicht verlangt, hier noch ein Herbstgedicht, das durch seine Wortwahl überzeugt:
Es laubt das Blatt und welkt darnieder,
die Gärtner fluchen amigs wieder. (Der Sportreporter)

Den Schluss der Gedichtstunde macht ein ganzer Zyklus, der das Jahr radikal zusammenfasst:

Jahreslauf
Wiesen grünen, Bienen dröhnen.
Würste grillen, Donner grollen.
Blätter faulen, Winde heulen.
Flocken fallen, Wälder schweigen. (Manette Fusenig)

Hier wird das Schema Feststellung plus Tonspur aufs Äusserste verdichtet. Allerdings ist Raymond auf seiner Wolke noch nicht zufrieden. Er pfeift durch die Zähne und knurrt: «Die Leute halten sich nicht an den Bauplan! Ich wiederhole die Vorgabe:
Das Laub fällt von den Boimen,
ein Hund bellt irgendnoimen.
Leis fällt der Schnee vom Himmel, zart hört man ein Gebimmel.
Noch fehlt mir der lyrische Durchbruch. Dichtet weiter, Leute!»