Von Korsetts und qualmenden Kaminen

Der Altstadtbewohner Rolf Meyer verfügt über eine grosse Sammlung von alten Firmenbriefköpfen, Fotos und Stichen von Zürich und anderem mehr. Er hat einen Einblick in sein Reich gegeben.

Es ist ein Nachmittag wie jeder andere. Ich hetze über den Lindenhof und rufe ihn an, den Herrn Meyer, dass ich gleich vor Ort sei – nur eben etwas verspätet. «Wo sind Sie denn?», fragt er. Etwas ausser Atem, er hört das, bestätige ich die Position Lindenhof. An der Augustinergasse eingetroffen, begrüsst er mich, aus dem Keller kommend, freundlich. «Weshalb sind Sie über den Lindenhof gegangen, hätte es da nicht einen direkteren Weg gegeben?» Ich zucke mit den Schultern; ja, weshalb eigentlich. Er habe als kleiner Bub auch immer den Weg über den Lindenhof gewählt, wenn er vom Zürichberg her, wo er aufgewachsen sei, unterwegs ins Geschäft seiner Eltern an der Augustinergasse war. Sein Vater habe ihn deshalb oft ausgelacht. Ich trete ein und folge ihm in den Keller. Es funktioniere halt nach Syphonsystem, das Hereinkommen ins Haus, meint er. Ich bin erstaunt. Eine kleine Werkstatt durchquerend gelangen wir zum Lift, der uns in die Wohnung bringt. Früher habe es einen Eingang durch das Geschäft im Parterre gegeben, aber dieser sei bei der ersten Fremdvermietung zugemauert worden.

Korsetts und Widerstand
Früher wurden an dieser Adresse nicht Uhren und Schmuck, sondern Korsetts verkauft. Die Urgrossmutter Caroline Meyer-Ernst eröffnete 1880 das Geschäft, welches den Damen der guten Gesellschaft zu besseren Formen verhalf. Schöne Korsetts mit Fischstäbchen fanden hier ihre Trägerinnen – in Massarbeit gefertigt im Nähatelier in der obersten Etage. 1969 wurde das Atelier und der Dachstock zu einer kleinen Wohnung mit Dachterrasse umgestaltet. Das Korsettgeschäft wurde 1972 aufgegeben und die Geschäftsräume an den Juwelier Berkowitsch vermietet.
Um 1976 bahnte sich eine grosse Umgestaltung des Augustinerquartiers an. Man nannte es «Sanierung». Totaler Abbruch drohte. Rolf Meyer beteiligte sich am Widerstand der Quartierbewohner. Man kämpfte unter anderem um die Erhaltung der Zinnen, die für die «interne Kommunikation» wichtig waren. Damals wollte diese die Denkmalpflege zum Abbruch freigeben, weil sie aus dem 19. Jahrhundert stammten und nicht im Murerplan verzeichnet waren. Viele Nachbarn mussten das Quartier verlassen und die neuen Mieter in den neuen Wohnungen integrierten sich meist nicht ins Quartierleben. Mit dieser Entwicklung sei er gar nicht glücklich. Doch war es früher wirklich besser oder nur anders? Wir tauchen ein in seine Sammlung alter Briefköpfe, thematisch geordnet, gescannt und digital verwaltet.

Briefköpfe und der schöne Schein
Wie sich doch die Werte verändert haben! Früher wurden auf den Briefköpfen die Firmensitze dargestellt und dies möglichst vorteilhaft. Die Schornsteine mussten qualmen, denn Dampf und Qualm bedeuteten Dynamik. Ausstellungsmedaillen wurden stolz in die Vignetten integriert und die Grafiken laufend dem Zeitstrom angepasst. War zuerst das Rösslitram vor dem Haus abgebildet, folgte in der nächsten Auflage bereits die «Elektrische».
Rolf Meyer zeigt mir ein schönes Beispiel, wie zwei konkurrierende Hotels sich in ihren Werbebildern übertrumpften. Das Hotel Bellevue hisst auf seinem Kärtchen die Schweizerfahne und stellt den nahen Zürcherhof verkleinert in den Hintergrund. Der Zürcherhof setzt sich mit derselben Fahne auf dem Dach übergross in Szene und verdeckt den Konkurrenten mit der Rauchfahne einer Dampfschwalbe. – Anderswo setzten sich die Firmen bildlich in Bahnhofsnähe: Das Hotel St. Gotthard verdrängt das National und schob sich, wie durch unheimliche tektonische Kräfte getrieben, zum Bahnhofplatz. In den Darstellungen anderer Firmen blähte sich der Bahnhofplatz bis zur Pestalozzianlage.
Schön sind die alten Logos der Hotels Storchen, Florhof, Central und ganz besonders putzig kommt das Eichhörnchen des Hotels Waldhaus Dolder daher. Übrigens, eine Flasche Beaujolais kostete dort damals 5 Franken, so steht auf einem Beleg geschrieben. Apropos Preise: beim Stöbern finde ich eine Rechnung der Paracelsus-Klinik aus dem Jahr 1906 über Fr. 46.90. Darin aufgelistet sind 6 Tage Aufenthalt Fr. 26.–, Zimmerbeleuchtung Fr. –.60, Operation Fr. 12.–, Verband und Medikamente Fr. 6.80, Wein Fr. 1.50. Die Totalkosten unterschritten den Depotbetrag von Fr. 100.– um Fr. 53.10. Gerne will ich später nochmals drüber nachdenken, vielleicht einen Vergleich ziehen. Es sind nur 104 Jahre her, etwas mehr als ein Leben bei der heutigen Lebenserwartung!
Spannend und genau dokumentiert ist die Entwicklung rund um den Bahnhof. In Zehnjahresschritten liegen hier Pläne vor, welche die Veränderungen aufzeigen. Schmunzeln lässt mich ein Dokument von 1868 über die Kanarienvögel im Limmatraum, die Darstellung des Pfrundhauses und die des Panoptikums, in welchem erstmals dunkelhäutige Serviererinnen bestaunt werden konnten.
Ein schönes Stück Geschichte zeigt die grosse Sammlung zur Confiserie Sprüngli auf, welche zurück geht bis 1836, bis zur Gründung durch David Sprüngli.

Historische Aktfotos
Da die Aktfotografie nicht speziell im Kreis 1 stattfand, haben wir diese Leidenschaft des Sammelns historischer Fotos nur kurz gestreift. Mich zu verabschieden, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben, wäre jedoch undenkbar gewesen. Ich frage Rolf Meyer, was denn das Besondere an diesen Fotografien aus der Zeitspanne von 1860 bis 1930 sei. Er lacht und sagt, vor allem seien es die etwas fülligen Formen der Frauen und die naiven und weichen, ja fast malerischen Gestalten. Er zeigt mir ein paar ganz besonders schöne «Objekte»; überdimensionierte handkolorierte Glasdias, welche er soeben in einem kleinen Fotobuch zusammengefasst hat.
Mit diesen Bildern im Kopf verlasse ich am späteren Nachmittag das schöne Haus an der Augustinergasse, welches, vielleicht durch den Pfeifentabakgeruch von früher, er raucht bereits 18 Jahre nicht mehr, so ganz besonders riecht. Herausgerissen aus der Reise in die Vergangenheit lande ich auf der Bahnhofstrasse. Es war ein schöner Nachmittag mit vielen Eindrücken. Am Abend sehe ich sie wieder vor mir, die Schönen von damals. Dem heutigen Ideal entsprechen sie nicht. Doch eins ist sicher, es war eindeutig mehr dran; mehr Haar, mehr Frau – drapiert für den Mann.

Therese Kramarz