Liebe Alice – tante grazie

Esther Scheidegger würdigt in ihrem Nachruf auf Alice Vollenweider nicht nur eineäusserst erfolgreiche Berufsfrau, sondern auch eine liebenswerte Altstadtbewohnerin.

Alice Vollenweider hat uns verlassen. Die Zürcher Fachfrau für Italiens Kultur und Küche, Romanistin, Journalistin, Lebenskünstlerin und erfolgreiche Autorin ist am 13. September gestorben, mit 84 Jahren. Insbesondere die Altstadt verliert eine geistreiche, liebenswerte, belesene, lebenskluge Nachbarin und Freundin, die man kannte und schätzte.
Die promovierte Romanistin war keine Akademikerin im Elfenbeinturm. Sie sass zwar ihr Leben lang stundenlang am Schreibtisch, eingemauert von Büchern, aber sie stand auch in der Küche – die ebenfalls eine Bibliothek war. Sie führte an vielen privaten Küchentischen und in unzähligen Restaurants intellektuelle Gespräche übers Essen und Kochen, schrieb literaturkritische Texte und «à-la-carte»-Beiträge, führte viele Jahre, bis 2002, den unvergesslichen «Annabelle»-Kochbriefkasten. Was sie da doch alles gefragt wurde und en detail akribisch beantwortete!
Man traf sie am Freitag auf dem Bürkliplatz-Markt, meistens kam sie mit dem Velo. In der Badi. Im Schauspielhaus. Bei Helen Faigle am Neumarkt verkehrte sie natürlich, in der Rosen-Apotheke machte sie sich in früheren Jahren neugierig forschend über Kräuter und Gewürze kundig. Sie war bis zuletzt Stammgast in der «Destithek», mit ihren italienischen Freundinnen traf sie sich regelmässig im Restaurant «Frieden». Den griechischen «Läbis 1» der Familie Nanopoulos hatte sie ja sozusagen im Haus, wo, lange ist es her, auch der Schriftstellerkollege Jürg Federspiel (+ 2007) gewohnt hatte. Und von Hugo Loetscher (+ 2009) trennte sie nur die Limmat. Er schrieb ihr einmal, 1975: «Im Umgang mit Dir fällt mir auf, dass ich gar kein so besessener Intellektueller bin, wie es manchmal den Anschein haben könnte. Mir geht es nicht so sehr darum, was im Kochbuch steht, als was auf dem Teller liegt. Wenn Du, statt mit mir, mit Friedrich Schiller einen Briefwechsel führtest, würdest Du erfahren, dass Du einen «sentimentalischen Zugang» zur Küche hast, während meiner eher naiv ist.» – Jener legendäre, ergötzliche Briefwechsel zwischen zwei weltoffenen Zürcher Koryphäen in der NZZ erschien später unter dem Titel «Kulinaritäten» als Taschenbuch. Darin lesend könnte man sich ein bisschen trösten, es ist derzeit leider vergriffen. Ihr «Aschenbrödels Küche», 1971 (!) erschienen, kennen sowieso alle. Es war ihr «revolutionäres» Credo für die damals in den Medien noch nicht «erfundene» Cucina povera, die Alltagsküche der Nonna. Italien war Alice Vollenweiders zweite Heimat, mitgemeint ist das Tessin. Sie beschenkte das damals noch recht zwinglianisch verknorzte Zürich, schon als sie noch im Kreis 4 wohnte, mit herzerwärmender Italianità. Nicht nur kulinarisch, sondern auch literarisch. Sie vermittelte, als Übersetzerin und Rezensentin und Autorin, unter anderem über den ebenfalls italophilen Berliner Verleger Klaus Wagenbach, die Werke von Natalia Ginzburg, von Manganelli Leopardi, Gadda, Malerba, die Orellis, Nessi, Pusterla…
Danke, Alice, für alles. Du fehlst.

Esther Scheidegger Zbinden