In Mauern gegossenes Facebook

Unser Gastschreiber sieht in der Zürcher Altstadt so etwas wie ein soziales Medium. Und er fragt sich, ob man beim Weinen ums Lädelisterben auch die eine oder andere Freudenträne vergiessen darf.

Vor einer Weile habe ich das Ufer gewechselt. Jahrelang wohnte ich in der anderen Altstadt drüben, in derjenigen mit dem grossen Zifferblatt. Dort, wo Frau Götz ihre Lumpen zu sinnlosen Preisen verscherbelt. Dort, wo Pastorini sinnvolles Spielzeug an Eltern verkauft, die pädagogisch wertvoll denken. Wo der Storchen seit Jahrhunderten Gäste beherbergt. Ganz oben am Rennweg, auf dem ich noch nie jemanden habe rennen sehen. Nun bin ich hüben am Rindermarkt und schaue über ein Gewusel an Dächern.
Wäre unsere Wohnung ein Mensch, hätte sie wohl Rheuma, Arthritis und Krampfadern. Es gehört zu den liebenswerten Eigenheiten eines Heims in der Altstadt, dass man zur Toilette rauf muss, ohne dabei eine Treppe zu benutzen, weil der Boden so schief ist. Ich erinnere mich, vor einigen Jahren hatte man beim Durchblättern von Möbelkatalogen unweigerlich den Eindruck, die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer würden in Lofts wohnen. Jede Couch, jeder Tisch, jedes TV-Möbel war plötzlich auf Rollen. Für eine Altstadtwohnung sind Rollen nichts. Ich stelle mir vor, wie ich jeden Morgen die Möbel an ihren Platz schieben müsste, weil sie sich über Nacht von der einen in die andere Ecke bewegt haben.

Nichts mit Anonymität
Altstadt ist ein banaler Begriff. Er umschreibt lediglich einen Teil einer Stadt, der älter ist als andere. Betrachtet man den Begriff «Alter» nüchtern und aus einer gewissen Distanz, fallen einige Dinge auf. So finden wir in der Regel alles Neue toll. Ein Handy muss neu sein, ein Auto auch. Und Partnerinnen und Partner sind meist auch interessanter, wenn sie neu sind. «Schau mal, Petra hat noch immer denselben Freund.» Das ist einfach nicht dasselbe wie «Hast du gesehen, Petra hat schon wieder einen Neuen.» Auf den Titelseiten der immer einheitlicher werdenden Tageszeitungen stehen jeweils die «News». Die interessanten Gedanken, die Analysen und die Meinungen sind irgendwo auf den hinteren Seiten reingepfercht.
Mitten in dieser Kultur, die alles Neue lobpreist, steht die Altstadt. Und sie macht keine Anstalten, sich grundlegend zu erneuern. Zwar wird da etwas renoviert, dort was herausgeputzt, aber ihren Charakter, den behält sie. Es ist ein schönes Gefühl, dort zu schlafen, wo vor mir schon hunderte Generationen ein Nickerchen machten. Wer in einem Neubau auf einem ehemaligen Kartoffelacker in Altstetten oder Leimbach residiert, kennt dieses Gefühl nicht. Es ist, als ob die Zeit in der Altstadt einen anderen Geruch oder eine andere Farbe hätte.
Doch die Altstadt ist nichts für Fans der Anonymität. Blendet man die Touristen und Schaufenstergucker aus dem Züri Oberland mal aus, bleiben noch immer etliche Figuren, die mein Kommen und Gehen registrieren, wie ich das ihre. Die Ladenbesitzer, die Hobbyköche, das quengelnde Kind, der Barista, die mit dem Hund, der mit den beiden Hunden, die Stumpenraucher und Stangentrinker, die Designer-Trulla. Die Geliebten, die einen Schlüssel zur Hintertür haben und die Gehassten, die man nur mit eisigem Blick grüsst. Sie alle stiften dem Quartier Identität. Ohne sie wären wir ein Freilichtmuseum, ein Disneyland. Ein Körper ohne Seele.

Ein bisschen wie Facebook
Unsere Altstadt ist ein bisschen wie Facebook. Eine analoge Version eines sozialen Mediums. Nur läuft alles automatisch ab. Man muss nicht eintöggelen: «Gehe zum Coiffeur.» Ein Blick aus dem Fenster genügt, und die anderen kriegen das mit. Nicht mal das eigene Haus muss man verlassen. Gerade im Winter, wenn die Nächte früh über uns hereinbrechen, verwandeln sich die Altstadtfassaden in Weihnachtskalender. Überall gehen Türchen auf, dahinter spielen sich Szenen ab, die das Leben schreibt.
In einem Punkt bin ich etwas hin- und hergerissen: Ich frage mich, wie sehr sich Zürichs historische Innenstadt verändern darf und soll. Natürlich weine ich still in mich hinein, wenn ein Laden zugeht, den ich seit meiner Kindheit kenne. Vor allem dann, wenn dort kurze Zeit später ein «Starbucks», ein «Navyboot» oder irgendein amerikanisches Modelabel einzieht. Gopfert…, denke ich, kann man denn mit Käse, Zigarren, Reiseführern und wunderbarem Krimskrams kein Geld mehr verdienen? Müssen es standardisierte Kaffeebohnen und in Bangladesch genähte Fetzen sein?

Veränderungen gehören dazu
Andererseits gehört die Veränderung zur Altstadt. Das Kino Stüssihof mit den beiden charakteristischen Füdlibacken in der Leuchtschrift war auch nicht immer hier. Es stammt aus einer Zeit, als im Niederdorf wirklich noch die niederen Wesen herumgeisterten. Ich werde es vermissen, obwohl ich nie dort war. Respektive fast nie. Wenn Neues entsteht, wird manchmal auch Tradition neu geboren. Was wir Menschen machen, hat selten lange Bestand. Dinge – auch Geschäfte – entstehen, weil wir sie entstehen lassen. Und wenn wir uns von dieser Welt verabschieden, weichen früher oder später auch unsere Werke.
Ja, es ist ein Jammer, wenn das, was man lieb gewonnen hat, verschwindet. Aber manchmal tut sich dadurch auch Raum für Neues, Grossartiges auf. Auch eine Altstadt, die über Jahrhunderte fortbesteht, muss sich manchmal wie eine Schlange häuten. Sie muss sich sanft von innen heraus erneuern, ohne dabei ihr Wesen oder ihr Aussehen zu verändern.
Hier wird eben nicht gewohnt, sondern gelebt. Und es ist ein privilegiertes Leben, das wir in diesem sozialen Medium Namens Altstadt haben. Die Limmat mag uns voneinander trennen. Aber im Gefühl sind wir eins.

Christian Jott Jenny


Unser Gastschreiber
Christian Jott Jenny (34) ist klassischer Tenor, Schauspieler und Gründer des «Amts für Ideen» (1997).
In Zürich aufgewachsen, studierte er klassischen Gesang und Schauspiel in Berlin. Daneben widmet er sich gerne verwandten Genres wie Musical und Operette. Als Gesellschafts-Tenor «Leo Wundergut» tritt er zusammen mit den «Jetset-Singers» und dem «Staatsorchester» im In- und Ausland auf. Der Vorsteher des «Amts für Ideen» organisiert und programmiert Konzerte und klassische Konzertreihen, wie die «Schubertiade Zürich». Er rief das «Festvial da Jazz St. Moritz» ins Leben und ist dessen künstlerischer Leiter. Er lebt in der Altstadt und in Berlin.