Die nackte Wahrheit

In unserer Rubrik Grün&gut widmet sich der Autor jeweils einem Thema aus dem Bereich Natur in der Altstadt.

Geomorphologie nennt sich die Wissenschaft, welche erforscht, warum die Erdoberfläche so aussieht, wie sie aussieht. Warum einige Gipfel schroffe Zacken sind und andere wie Pultflächen da liegen, oder warum ein Fluss schlängelt, verzopft mäandriert oder sich in ein Tal einschneidet. All so Zeugs. Sie werden jetzt denken, wozu man denn so etwas erforschen soll. Nun, manchmal sind die Ergebnisse interessanter als man vermutet. Mein Bild von Zürich hat es zum Beispiel grundlegend verändert, als ich begriff, dass wir auf einer Gletscherlandschaft leben. Sowohl der See als auch die verschiedenen Hügel in der Stadt sind das Werk des letzten Vorstosses des Linthgletschers vor etwa 17 000 Jahren. Bevor er ganz abschmolz stand er eine Weile lang mit der Zungenspitze am Lindenhof. Das Schmelzwasser des Eisstroms polierte den Talboden unter dem Eisstrom tiefgründig aus und schuf so das Seebecken. Alle halbwegs grossen Schweizer Seen zeigen die Lage von Gletschern vor dem endgültigen Rückzug ins Gebirge, alle!
Wie Sie sicher wissen, schieben Eisströme Berge von Schutt vor sich her. Man nennt das Moränen. Sie bleiben als U-förmige Hügelzüge liegen, wenn die Zeiten wärmer werden. Und nun schauen Sie sich Zürich an: Der Rieterpark, Parkring, der alte Botanische Garten «Zur Katz», der Lindenhof, die Anhöhe der Uni und Obere Zäune, die Hohe Promenade sowieso: alles Moränenhügel. Wir wohnen auf Schotterhaufen, zusammengeschoben von einer Eismasse, die weit über die heutigen Dächer hinausragte. Find ich spannend, mir das vorzustellen. Denken Sie sich auch einmal die Häuser weg und die Menschen und Pflanzen. Spazieren Sie vom Kunsthaus Richtung Hirschenplatz über die Moräne der heutigen Oberen Zäune. Spüren Sie den Sand unter den Sohlen knirschen? Hören Sie die eisige Stille, die nur vom Gletscherwind in Ihrem Pelzkragen gestört wird?
Die Massen von Schmelzwasser haben dann mächtige Gräben in diese Moränenlandschaft gespült. Der Limmatdurchbruch beim Grossmünster ist der augenfälligste. Weniger bekannt ist, dass die Sihl ursprünglich etwa bei der Neuen Börse scharf rechts drehte und beim Bürkliplatz in den See mündete. Darum fehlt im Moränenzug zwischen der Katz und dem Lindenhof ein grosses Stück, dort laufen topfeben die Bahnhofstrasse und die Talackerstrasse im alten Flussbett. Ein mächtiger Schmelzbach strömte vom Hottingerplatz via Heimplatz den Seilergraben runter und via Mühlegasse in die Limmat. Die Strassenführung dort folgt also geomorphologischen Vorgaben. Sie habens schon immer gespürt, oder?
Thomas Trachsel