Seldwyler Geschichten

Unsere Gastschreiberin dieser Nummer spannt einen weiten (literarischen) Bogen: Das ist ihre Liebeserklärung an die Altstadt.

Von Gisela Treichler
Meine Liebe zur Altstadt von Zürich habe ich Karl dem Grossen zu verdanken. Er leistete mir Gesellschaft während meiner Mittagspause, die ich im Kreuzgang des Grossmünsters verbrachte. Zu diesem Zeitpunkt war im Gebäude, in dem sich heute das Theologische Seminar der Uni Zürich befindet, eine Abteilung der Töchterschule der Stadt Zürich, die «Fraueli», Frauenbildungsschule Abteilung III der Töchterschule, wo wir zu edlen und tüchtigen Haus- und Berufsfrauen ausgebildet wurden. Da meine Eltern in Regensdorf wohnten, verbrachte ich die Mittagszeit im Kreuzgang des Grossmünsters, wo ein Brunnen mit der Figur Karls des Grossen stand. Oder bei Regen im Stübli neben der Konditorei Schober bei einer heissen Schoggi oder im Café Select oder im Odeon. Anschliessend ging ich in die Buchhandlung Elsässer, um Bücher anzuschauen. Die Liebe zum Buch und zur Altstadt mit Hunderten von Brunnen und Häusern mit Geschichten aus der Vergangenheit begleiten mich durch dick und dünn.
Das Haus zum Elsässer bekam für mich eine grosse Bedeutung, denn dort konnte ich bei den hoch qualifizierten Buchhändlern Fräulein Stamm und Herr Arnold eine Buchhändler-Lehre abschliessen. Der Blick auf die Limmat und hinüber zur hölzernen Frauenbadi aus der Gründerzeit und die fast pariserisch anmutenden Fassaden des Stadthausquais gaben mir Tag für Tag das Gefühl, Kultur in einer Weltstadt zu verkaufen.

Kellers Figuren
Gottfried Keller, der Herr unserer Gassen mit seiner liebenswerten Schilderung ihrer Bewohner, wurde zu meinem Cicerone. Oft sah ich an der Predigergasse oder Froschaugasse eine Inkarnation seiner Figuren auf mich zukommen, Spiegel, das Kätzchen, turnt zeitlos über die Dächer, und der eitle Geselle hat keine Mühe, sich in den zahllosen Kleidergeschäften einzudecken. Regula, die Schwester von Gottfried Keller, sitzt schon am Kartoffelberg und versucht den Buttergraben zu retten vor ihrem Bruder Göpf. Büchner hat an der Spiegelgasse gleich neben Lenin logiert und mit ihm über die erfolgreichen Strategien der Revolution diskutiert. Und oft schon fühlte ich mich beobachtet von Herrn Lavater, wenn ich an seinem Wohnhaus beim Brunnenturm vorbeiging. Seine Typologie wäre wohl für die Minnesänger, die ihre Logen auch in dieser Gegend hatten, öfter mal unangenehm gewesen, denn der fliehenden Kinne muss es viele gegeben haben im Mittelalter, wie ich auf den schönen Bildern der Manessischen Handschrift sah. Ricarda Huch huscht vorbei und alle Dadaisten waren schon da, bevor Dada da war. Auch Herr Humm brummt durchs Rabenhaus und Peter Noll nimmt Abschied im Grimmenturm. Viele grosse Geister haben die Häuser, die uns täglich begrüssen, bewohnt, und irgendwo warten an einer Ecke ihre Gedanken auf uns, um weitergesponnen zu werden. – Doch zurück zu den Lebenden, denn die Geister sind luftig und schwer zu fassen.

Das erste Zimmer
Mein erstes Zimmer hatte ich am Predigerplatz in einem Haus neben dem Kiosk, direkt vis-à-vis vom «Africana». Dieser Jazzclub der ersten Güte beherbergte viele grosse Jazzmusiker der Sechzigerjahre, unter anderem trat Irene Schweizer und ihr Quartett regelmässig auf. Ich freute mich über den kurzen Heimweg von allen Seiten, und die «Malatesta» war mir auch nicht fremd. Die Froschaugasse hatte es mir angetan und durch ein Inserat fand ich eine Wohnung im Haus Nummer 10 im obersten Stock, genau gegenüber der legendären Pinkus Buchhandlung, in die zog ich Anfang der Sechzigerjahre ein. Meine literarischen Exkurse mit Boris Vian und der schönen Chloé und ihren Mäusen bekamen realistische Aspekte, da die Mäuse auch über meine Dächer turnten. – An der Ecke zum Rindermarkt war die kleine Kunstbuchhandlung, die von Henri Wenger liebevoll geführt wurde. Morgen für Morgen stand Herr Wenger vor der Tür und begrüsste mich konsequent mit einem Bonjour. An der anderen Ecke befand sich die alte Burg, eine Kneipe mit starken Schnäpsen und harten Kerlen. An der Ecke Brunngasse lag die «Stadt Madrid», eine veritable spanische Weinhandlung, die der Familie Carreras gehörte. In deren dazugehörigen Weinstube wurde die Welt von grossen Könnern und Wissern verbessert. Auf meinem Arbeitsweg lag ein verführerisches Geschäft, in dessen Auslage ein lockendes oranges Nähkästli lag – es handelte sich um ein avantgardistisches Transistorradio der italienischen Firma Brionvega. Mein Monatslohn nach der Lehre betrug 650 Franken, doch ich habe mir das sündhaft teure orange Luxusding vom Mund abgespart. Die Investition hat sich wirklich gelohnt, denn das Kästli sendet immer noch schöne Musik und mehr oder weniger gute Nachrichten in meine Welt. Vierzig Jahre später hat dieses tolle Geschäft Münsterton seine Tore im Niederdorf leider geschlossen und niemand bedauert mehr als ich, dass ich nicht mehr zum Umsatz beitragen konnte. Wir können nur hoffen, dass in dieser Ecke nicht wieder einer dieser Schuhläden oder billigen Textilläden, die eh nur ganz kleine Grössen verkaufen und kommen und gehen wie Blätter im Wind, aufmacht.
Doch zurück zur Froschaugasse: da war auch einiges los. Froschauer gründete die erste Druckerei von Zürich und verbreitete von dort Wissen über die Schweiz. Theo Pinkus verteidigte von hier aus seine kämpferische Buchhandlung und seine Ideen und verteilte Abend für Abend in allen Ecken der Stadt seinen Wachruf. Ein Brunnen in der Mitte der Froschaugasse wird vom Quellwasser des Zürichbergs gespeist und erfrischt die Stadtwanderer und Anwohner mit seinem Gänsewein.

Wanderjahre
Meine Lehrjahre habe ich in unserer geliebten Altstadt verbracht, doch für die Wanderjahre musste ich sie verlassen. Mit meinem ersten Mann zog ich von der Froschaugasse weg und durch Asien. Unser Baby war ein Buch, der billigste Trip nach Indien – dieser erste Globetrotter-Reiseführer war eine Anleitung, wie man mit wenig Geld und viel Mut nach Indien und Nepal auf dem Landweg reist. Später folgten noch Führer wie «Südostasien selbst entdecken» und «Nepal selbst entdecken», mit denen man die Welt auf dem Landweg bis zur Trauminsel Bali bereisen konnte.

Schönheit der Altstadt
Diese jahrelangen Reisen haben mir die Schönheit unserer geschützten Altstadt umso mehr bewusst gemacht. Überall gab es sauberes Wasser, sogar in den Häusern, Toiletten im Haus, der Abfall wurde zwar geräuschvoll, aber doch geholt und überhaupt, als es noch die Ochnserkübel gab, war es echt lärmig an den Kübeltagen und natürlich auch an den Freitagen nach dem Zahltag, denn schon in den Sechzigern war die Altstadt, Rive gauche (vom Bahnhof aus gesehen), die beliebteste Gegend der Deutschschweiz, um sich selbst zu beweisen wie toll man sein kann, besonders nachts.
Lebensmittelgeschäfte gab es noch in Hülle und Fülle. Das Paradies auf Erden oder auch Schlaraffenland war der Comestibles Bianchi. Es gab die schönsten frischen Fische aus allen Ozeanen, die zartesten Fleischstücke aller möglichen Jagdgründe, gut gewürzte Terrinen, Lachs, Strausseneier und viele Traubensäfte aller Provenienzen. Bedauerlich, dass wir auf diese Genüsse verzichten müssen und seit Jahren an einer Baustelle, die sich an der endlosen Geschichte orientiert, vorbeigehen müssen. Dieses wunderschöne Haus und wir hätten Besseres verdient.
Nach den Wanderjahren in Afghanistan, Indien, Nepal und anderen asiatischen Ländern eröffnete ich 1976 am Seilergraben direkt neben dem Restaurant «Hirschberg» den Travel Book Shop. Die Buchhandlung sollte ein Treffpunkt für Reisende werden, mit Anschlagbrett für Reisepartnersuche, den neuesten Informationen aus aller Welt und ein Ort der Begegnung. Tee gabs auch, gegen das Fernweh und den Durst.
Bald platzte das Lädeli aus allen Nähten und der feuchte Keller wurde mit einem Luftentfeuchter bestückt und Heinrich Harrer, Reinhold Messner und andere bekannte Reisende kletterten in den Keller am ehemaligen Stadtgraben. Der Travel Book Shop wurde zum Treffpunkt.
Mitte der Achtzigerjahre zog ich an den Rindermarkt 20 um und eröffnete den neuen Travel Book Shop mit Landkarten aus aller Welt, Globen, Reliefs und allem, was das Herz eines reiselustigen Globetrotters erfreut.
Die Altstadt steckt voller Geschichten, die Geheimnisse verbergen, die man erforschen möchte, doch es fehlt die Zeit, denn die Buchhandlung, die die Welt verkauft und erschliesst, wartet. Ein Weltreich inmitten der kleinen Welt der Altstadt. Es bleibt mir nur übrig, exterritoriale Freiheit zu geniessen und allen, denen die Welt zu gross wird, das Stadtarchiv um die Ecke zu empfehlen.

Unsere Gastschreiberin
Gisela Treichler Kandalkar (1943) wohnt seit 1955 in der Stadt Zürich. Nach der Töchterschule absolvierte sie eine Buchhandelslehre. 1976 eröffnete sie am Seilergraben den
«Travel Book Shop», der 1984 an den Rindermarkt 20 umzog. Ihre Spezialität ist Asien, diesem Kontinent gilt ihre Liebe. Auf ausgedehnten Reisen lebte Gisela Treichler, die fünf Sprachen fliessend spricht, ihren Nomadentrieb während Jahren aus. Heute leitet sie eine bis zwei grosse Reisen pro Jahr. Ihr Hobby ist das Kochen. Sie hat zu diesem Thema Bücher aus der ganzen Welt.
Seit anfangs der Sechzigerjahre lebte sie in der Altstadt, bis 1975. Sie ist verheiratet und wohnt im Kreis 3.