Lebensgeschichte

Walter Salzmann hatte eine schwere Kindheit. Was er erlebt hat, ist kaum zu fassen. Hier erzählt er seine Lebensgeschichte. Elsa Feurer hat sie aufgeschrieben.

Geboren bin ich 1936. Mein Vater stammte aus einer reichen Zürichseefamilie. Er war verlobt mit der Tochter des Gemeindepräsidenten von Horgen. Am Vorabend der Hochzeit sollte er in Zürich seinen Hochzeitsanzug abholen. Zufällig traf er dort seinen Schwager und sie beschlossen, den letzten Junggesellenabend zu feiern. Der Abend war lang und er erwachte erst am nächsten Nachmittag. Der Schwiegervater, beleidigt und wütend, weil er umsonst zwei Ochsen geschlachtet hatte, klagte vor Gericht. Mein Vater musste für eine Woche ins Gefängnis und bekam anderthalb Jahre Heiratsverbot. Darauf wollte er gar nicht mehr heiraten – bis er meine Mutter traf. Da war er schon über fünfzig. Sie war Dienstmädchen, arbeitete aber als Serviertochter im Restaurant «Krokodil». Der Familie war das zu gering und sie wollte mit ihrem Sohn nichts mehr zu tun haben.
Wir waren sechs Kinder – ich das Nachzüglerli. Der Vater arbeitete als Asphalteur in Wädenswil und wir wohnten in einer Fabrikwohnung. Die WCs waren auf der anderen Strassenseite. Vom heissen Teer hatte der Vater viel Durst und begann zu trinken. Erst spät in der Nacht kam er nach Hause und irgendwann konnte er seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.
Er ging zum Armenpräsidenten und so kamen wir drei jüngeren Kinder ins Waisenhaus und die älteren drei mit den Eltern ins Bürgerheim. Ich war vier Jahre alt und durfte meine Familie nur unter Aufsicht einmal im Monat für zwei Stunden sehen.

Verdingbub im Waisenhaus
Bis neunzehn war ich Verdingbub im Waisenhaus. Es war eine schlimme Zeit. Mehr Schläge als Essen. Es war Krieg. Wir bekamen geschroteten Mais, der aber behandelt war, damit er nicht keimte, dafür aber auch nicht weich wurde. Dazu gab es zwei Brotscheiben. Neben der Schule mussten wir hart arbeiten. Wenn viel zu tun war, rief der Waisenvater in der Schule an und meldete mich krank. Einmal hatte ich eine Blasenentzündung und klagte, dass ich kaum stehen könne. Der Meister schlug mich, schickte mich aber trotzdem am Mittag zu Dr. Hess, dem Waisenarzt. Ich hatte hohes Fieber und er setzte mich ins Wartezimmer, um mich nachher mit dem Auto zurückzubringen. Ich hatte aber Angst, so lange wegzubleiben und ging zu Fuss. Der Waisenmutter sagte ich, ich müsse ins Bett, da packte sie mich bei den Ohren und schlug mich mit dem Hinterkopf gegen den Wärmeofen, bis der Waisenvater kam und sagte: «Hör auf, du schlägst ihn tot.» Mich schickte er in den Stall, wo mich später der Arzt fand. Er wollte mich ins Spital bringen. Der Waisenvater brachte mich aber in die eigene Krankenstation und als der Doktor weg war, kam er zurück, riss die Decke weg und schickte mich arbeiten.
Ich hatte Probleme mit den Füssen, bin immer krumm gelaufen. Der Doktor schickte mich in den Balgrist. Dort sagten sie, ich müsse bleiben, operiert werden und anschliessend Schienen tragen. Die Waiseneltern liessen das aber nicht zu. Für sonntags bekam ich ein Paar Schuhe von der Waisenmutter, die mich aber so schmerzten, dass ich sie beim Friedhof unten immer auszog und barfuss weiterging.
Einmal schlug sie mich mit einem drahtumwickelten Schlauch. Da ich nachher nicht sitzen konnte, zeigte ich die Schnattern dem Lehrer. Als ich ins Waisenhaus zurückkam, wurde ich verprügelt und für vier Tage in den Kohlenkeller gesperrt. Die Ratten brachten in der Nacht die Kohlenberge in Bewegung. Ich hatte schreckliche Angst. Ich war ein Kind.
Um uns zu schlagen, klemmte sich die Waisenmutter unseren Kopf zwischen die Knie. Einmal biss ich sie so fest in den Schenkel, dass sie zum Arzt musste. Es hat nie etwas genützt. Wenn ich mich irgendwo beklagt habe, wurde es nur immer noch schlimmer. Ab fünfzehn ging ich zweimal pro Woche in die landwirtschaftliche Schule in Wädenswil. Ich stand um vier Uhr auf und ersetzte einen Knecht. Mit neunzehn bekam ich zwanzig Franken Startkapital und konnte gehen.
Die Waiseneltern kamen später vor Gericht wegen Kindsmisshandlungen, wurden verurteilt und kamen ins Gefängnis. Allerdings nicht für lange. Der Waisenvater übernahm in Herisau eine Erziehungsanstalt. Viel später sah ich ihn einmal auf DRS aktuell: er hatte einen Knaben halb tot geprügelt. Dann hörte ich nie wieder etwas von ihm.
Im Neuenburgischen fand ich Arbeit als Metzgereiausläufer. Da ich aber bei der Ankunft erfuhr, dass ich auch beim Metzgen helfen müsste und ich das nicht konnte (im Waisenhaus waren mir die Kühe mit ihren grossen Augen oft der einzige Trost), sagte ich, ich müsse mich noch von meiner Mutter verabschieden und war weg. Am See schaute ich einem Fischer zu, der mich fragte, ob ich Arbeit suche und mich sofort einstellte. Leider musste ich ihn später einmal in jene Metzgerei begleiten. Der Metzger machte einen Riesenkrach, verklagte mich vor Gericht und ich musste hundert Franken Busse bezahlen, weil ich die Stelle nicht angetreten hatte.
Fünf Jahre war ich Kellner bei der Speisewagengesellschaft. Als ich in Frankfurt einige Tage Ferien machen wollte und in einer Gartenwirtschaft sass, fragte mich der Wirt, ob ich Arbeit suche. Am gleichen Abend konnte ich Probearbeiten und blieb dann zwei Monate. Bei einer Kontrolle wurde festgestellt, dass ich keine Arbeitsbewilligung besass und ich musste vor Gericht. Weil ich Schweizer war, musste einer vom Konsulat dabei sein. Der Richter wollte meine Lebensgeschichte hören und sagte dann, er habe geglaubt, KZ habe es nur in Deutschland gegeben.

Auf hoher See
Ich meldete mich dann in Basel bei der Hochseeschifffahrt. Die Tauglichkeitsprüfung dauerte zwei Tage. Ich bestand und bekam mein Seemannsbuch. Acht Jahre fuhr ich über die Meere, war in Kanada, Süd-, Ost- und Westafrika, einmal in Amerika.
Zwischen Casablanca und Europa kamen wir in einen grossen Sturm mit achtzehn Meter hohen Wellen, die uns alle Rettungsboote wegrissen. Wir mussten uns in der Messe versammeln und der Kapitän sagte, dass wir wohl nicht durchkommen würden und bei Befehl das Schiff verlassen müssten. Der Schreiner wollte in der Werkstatt noch etwas holen und wurde von einem Baumstamm erschlagen. Matrosen mit dicken Oberarmen weinten wie die Kinder. Wir kamen aber heil an. Die Schuld am Ganzen wurde einem Matrosen gegeben, der im letzten Hafen eine Hure nicht bezahlt hatte. Seeleute sind abergläubisch.
Bei einer anderen Fahrt – nach Südafrika – hatten wir einen Elektriker mit Liebeskummer. Er meldete sich krank und konnte bei einem Landgang zum Arzt. Da er über Schlaflosigkeit klagte, bekam er Tabletten. Als wir ausliefen, erschien er nicht zur Arbeit. Wir fanden ihn schlafend und der Kapitän meinte, wir sollten ihn schlafen lassen. Erst am zweiten Tag fand man die leere Schachtel, aber da war es zu spät. Nach zwei Tagen kamen wir ins Hoheitsgebiet von Südafrika. Mit einem Toten durften wir nicht anlegen. Militär kam an Bord und wir mussten ihn unter Aufsicht dem Seemannsgrab übergeben. Auf der Rückfahrt – vor Bremen – erhängte sich der Kapitän. Er hätte dort wegen dem toten Matrosen vor Seemannsgericht aussagen müssen. Vielleicht hatte er aber auch Angst, dass seine krummen Geschäfte, die er mit dem Funker zusammen tätigte, ausgekommen wären. Ausserdem hatte er ein Magengeschwür.

Eigenes Reinigungsinstitut
Ich kehrte nach Zürich zurück, fand eine Einzimmerwohnung an der Niederdorfstrasse und eröffnete ein Reinigungsinstitut. Das war nicht einfach. Man brauchte viele Bewilligungen. Ich hatte aber feste Kunden, putzte zehn Restaurants, über viele Jahre: «Schmiede», «Schöchlischmitte», «Safari», «Babalu», «3 Sternen», Café Schober und andere und hatte zeitweise zehn Angestellte.
Ein anderes Institut hatte die «Dorftrotte» und die «Bodega». Man half sich aus. Für einen sehr unzuverlässigen Arbeiter musste ich immer wieder einspringen. Man kam dann überein, dass ich die beiden Restaurants ganz übernähme. Es sind die einzigen, die ich noch heute putze. Ich habe keine Angestellten mehr. Es war immer sehr schwierig, gute Leute zu finden. Wenn bei mir alles gut lief, arbeitete ich zusätzlich im Akkord für einen anderen: Fensterläden und Vorfenster hinauf und hinunter tragen, einölen oder malen und putzen. Er schuldete mir über 10 000 Franken und vertröstete und belog mich. Seine Frau beschimpfte mich auf das Übelste und der Friedensrichter meinte zweimal, er müsse nochmals eine Chance bekommen. Beim dritten Mal kam er mit einem Brief für den Richter. Dieser machte dann meinem Anwalt den Vorschlag, ich solle jetzt 400 Franken nehmen, sonst gebe es gar nichts mehr.
Computer haben mich früh interessiert, weil die, die man kaufen konnte, kompliziert waren und nicht das brachten, was ich brauchte für mein Geschäft. Die Bestandteile konnte man kaufen und gelernt habe ich aus Büchern. Ich baute und programmierte mehrere Computer nach den Bedürfnissen meiner Kunden. Zu Hause habe ich immer noch zwei und brauche nie jemanden, wenn etwas kaputt ist.

Einzelgänger geworden
Zweimal habe ich ans Heiraten gedacht. Beim ersten Mal ging mein Bruder mit meiner Braut Besorgungen machen. Als ich ihr bei der Rückkehr einen Kuss geben wollte, ging mein Bruder dazwischen und sagte, sie sei jetzt die Seine. Mit der zweiten ging ich oft tanzen. Sie hatte dann einen schweren Rollerunfall und als sie aus dem Spital zurückkam, war sie ganz verändert. Alle zwei Minuten fragte sie das Gleiche und tanzen konnte sie auch nicht mehr. Diese Erfahrungen und vor allem natürlich meine schlimme Jugend, machten mich zu einem sehr vorsichtigen Einzelgänger.
Ich stehe immer noch jeden Morgen um fünf auf und nehme ein Pulver für den Muskelaufbau. Je mehr ich mich bewege, desto besser. Die Arbeit ist für mich eine Art Lebensversicherung. Bei der AHV sind Daten von mir gelöscht worden. Ich hätte jeden einzelnen meiner Arbeitgeber erst finden und anschreiben müssen. Die Rente ist klein. Ich könnte nicht leben davon. Ergänzungsleistungen will ich keine. Die Wiedergutmachungszahlungen des Bundes für erlittenes Unrecht interessieren mich nicht. Aber ich habe einen Wunsch: öffnet endlich die Archive!

Aufgezeichnet von Elsa Feurer


Zur Person
Walter Salzmann (geb. 1936), ist in Wädenswil als Verdingkind im Waisenhaus aufgewachsen. Später arbeitete er fünf Jahre als Kellner bei der Speisewagengesellschaft, ab 1963 war er acht Jahre auf hoher See.
Wieder zurück, gründete er ein Reinigungsinstitut und hatte bis zu zehn Angestellte. Zu seinen treuen Kunden zählten etliche Restaurants in der Altstadt. Heute reinigt er noch in der «Bodega» und in der «Tasca Romero». Er lebte einige Jahre in der Altstadt, heute im Kreis 5.