Tetris im Dörfli

Bei der Wohnungssuche vor einem Jahr war die Altstadt zuoberst auf der Wunschliste unseres Gastschreibers. Es hat geklappt – und erst noch an der Trittligasse.

Teile des Oberdorfs kannte ich aus meiner Zeit als Unternehmer mit Büro an der Olgastrasse, über dem Bahnhof Stadelhofen. Anfangs gabs noch die «Olga-Bar» beim «Weissen Wind», unser «nächster» Kunde war die Freie Evangelische Schule an der Waldmannstrasse und die besten Schoggigipfel für die Kaffeepause hatten El­vira und Rolf Vohdin. Nach 23 Jahren übergab ich die PR-Agentur an zwei Mitarbeitende. Jetzt wohne und arbeite ich in dem Teil der Altstadt, den ich in dieser Zeit ein wenig erkundet habe.

Von Kino bis Kompost
Das Oberdorf bietet mir eine einmalige Kombination von städtisch und dörflich: Zu Fuss und mit dem Velo ist alles erreichbar, was mich inspiriert. Ob Kunsthaus, Kino oder Kompostplatz. Den hätte ich hier nicht erwartet, zwischen Parkplätzen und Pflas­tersteinen blüht eine gepflegte Stätte der Vergänglichkeit. Gerade grüssen Vergissmeinnicht beim Gitter, bald wird erzürntes Insektengewimmel das Abheben des Deckels begleiten. So wird die Weitergabe der grünen Reste zum sinnlichen Ritual – ein schönes Zeichen für nachbarschaftliches Engagement, wofür ich der Kompostgruppe sehr dankbar bin.
Unerwartetes Grün auf der Hofseite der Häuser hat mich schliesslich auch in meine neue Wohnung gelockt; nachbarschaftliche Freundlichkeit erleichtert das Ankommen. Diese Offenheit hat mich überrascht: im kostspieligen, dicht bewohnten Quartier erwartete ich eher reservierte Distanz. Doch schon in den ersten Wochen führte mich eine Einladung auf die Innenhof-Wiese mit Pergola. Und das spontane, unkomplizierte Brunnenfest brachte neue Kontakte. Die Vielfalt der Altstadt-Angebote habe ich erst in Ansätzen geniessen können, die Kontakte sind aus meiner Sicht leichter zu knüpfen als in den bisher in Zürich bewohnten Quartieren.

Wo man Zeitungen hört
Aber bestimmt lag das auch an mir und meiner vollen Agenda. Heute lassen mich die schönsten Tagesanfänge zwischen Chai und Capuccino in den Zeitungen Zürichs versinken. Auf dem Weg zum Tee-Café Schwarzenbach nehme ich am täglichen Dörfli-Tetris teil. (Bei Tetris, diesem populären Computerspiel, geht es darum, Klötze unterschiedlicher Grösse optimal zu schichten.) Das Dörfli-Tetris nun wird jeden Morgen auf der Oberdorfstrasse Richtung Münstergasse inszeniert: Camions und Lieferwagen positionieren sich möglichst günstig in der Anliefer-Schlange, denn Wenden ist unmöglich. Kinderwagen, Velos und Fussgänger weichen geübt aus. Die grossen Klötze stauen sich regelmässig, aber selten lange.
Drinnen empfängt mich eine Morgenruhe, die in den meisten Cafés mit Musik überzogen wird. Nur das Ti­cken der Wanduhr legt seinen leisen Rhythmus unter das Rascheln der Zeitungsseiten. Wer es wagt, Mobiltelefongespräche zu führen, gehört nicht zu den Stammgästen und fühlt sich bestimmt ziemlich abgehört. Man kennt sich und grüsst zurückhaltend. Trotzdem hat Spontanität Platz: Mit einem Schmunzeln erinnere ich mich an die Einladung eines Gastes, den vor der Türe stehenden Segway einfach auszuprobieren. Zwei Wendekurven habe ich stehend gemeistert auf dem Einpersonen-Elektromobil mit Haltestange. Stimmt: Es ist wirklich einfach, aber zu Fuss ists mir wohler.

Wohnen und Arbeiten
Beratungsgespräche führen mich zurück an die Trittligasse. Dort warten bestimmt schon touristische Papa­razzi – ob ich nun meinen Kehrichtsack runter trage oder das Velo den Berg hoch schiebe, die Auslöser der Kameras und Mobiltelefone klicken lautlos. Rollkoffer dagegen drehen richtig auf in der Altstadt und rufen
in alle Richtungen: Hier hüpfe ich! Schüchterne Kofferroller nehmen ihr Gepäck nach einigen Metern entnervt auf die Arme. Aber vielleicht ist es
genau das, was sich jeder Rollkoffer heimlich wünscht. – Für meinen zweiten Beruf als Bildhauer habe ich mir einen Platz gewünscht, wo ich
laut und staubig sein kann. Die Arbeit mit Holz und Motorsäge führt mich aus der Altstadt hinaus nach Bülach. Im Gemeinschaftsatelier geniesse ich auch dort nachbarschaftliche Offenheit und Hilfsbereitschaft. Nur so sind grössere Ausstellungen möglich wie jetzt gerade im städtischen Alterszentrum Klus Park. Seit einigen Jahren zeigt die Galerie Kunstwarenhaus am Neumarkt regelmässig meine Skulpturen.

Lebendigkeit pflegen
Rund um die Trittligasse gibt es bezahlbare städtische Wohnungen, teure Wohnungen und Objekte, die als Anlage gehalten werden und die meiste Zeit leer stehen. Das ist einfach so. Wo viel Geld ist, bleiben manchmal weniger Lebendigkeit und Austausch zurück. Ich wünsche mir Altstädterinnen und Altstädter, die das Leben hier geniessen und pflegen. Dass Platz bleibt für alle, mit mehr oder mit weniger Einkommen. Dass Kindervelos auf der Gasse liegen und zwischen den Häusern gespielt wird. Dass der Austausch über kapitale Grenzen oder Vorurteile hinweg möglich ist. Ein idealistischer Traum? Vielleicht. Aber wenn ich als Altstadt-Grünschnabel sehe, was hier alles bewegt und gepflegt wird, dann leiste ich gerne meinen Beitrag dazu.
Dass bei jeder Begegnung Grenzen bleiben, hat Morgenstern schön auf den Punkt gebracht: «Einander kennenlernen heisst lernen, wie fremd man einander ist.» In diesem Sinne freue ich mich auf neue Begegnungen mit Fremden, bei Dörfli-Tetris, Tee, Kaffee oder den im Altstadt Kurier übersichtlich zusammengefassten Aktivitäten.

Marcel Bernet


Unser Gastschreiber
Marcel Bernet (1958) ist in Buchs SG aufgewachsen. Nach einer Banklehre studierte er Betriebsökonomie an der FHSG. Darauf folgten Einsätze in Marketingfunktionen in Basel, Frankreich und Spanien. Ab 1985 arbeitete er in einer Zürcher PR-Agentur, 1990 in New York. 1991 gründete er Bernet PR, die er 2013 an die Mitarbeitenden verkaufte. Seit 2009 schafft er Skulpturen aus Holz, heute wirkt er als Künstler und als Coach. 1990 zog er nach Thalwil und 2005 nach Zürich. Im letzten August fand der Vater von drei erwachsenen Kindern eine Wohnung in der Altstadt. In seiner Freizeit widmet er sich seinem Kontrabass und dem Ausdruckstanz.