Begegnungen bei Schummerlicht

Der Gastschreiber dieser Nummer wohnte schon in seinen Studienjahren in der Altstadt. Im gleichen Haus ging eine Liebesdienerin ihrem Gewerbe nach…

Meine Jugendjahre verbrachte ich als wohl behütetes Einzelkind in den Quartieren Unter- und Oberstrass. Nach der obligaten Schulzeit drängte ich meine Eltern, mich in ein Internat nach Stans zu verpflanzen. Ich sehnte mich nach einer grösseren Gemeinschaft und wollte den engen Verhältnissen im Elternhause entrinnen. Nach abgeschlossener Mittelschule kehrte ich nach Zürich zurück und begann meine Studien an der Universität. Wiederum hielt ich es in unserer kleinbürgerlichen Familie nicht lange aus. Als Werkstudent und Taxifahrer verdiente ich einen Teil meines Unterhaltes selber und konnte es mir erlauben, in den Sechzigerjahren in der Altstadt mit einem Kollegen zusammen eine eigene Wohnung zu beziehen. Sie lag über der ehemaligen «Hudlibeiz» am Rindermarkt.
Das Haus wurde später abgerissen, und es entstand der Neubau, in welchem sich heute der «Oliver Twist Pub» befindet. Die Wohnung war heruntergekommen, düster und ohne jeden Komfort. Halt so, wie es damals an vielen Orten im Quartier ausgesehen hat. Schliesslich wollte niemand, auch die Stadt nicht, Geld in Renovationen stecken. Altstadtsanierung war noch ein Fremdwort. Am liebsten hätte man alles abgerissen und mit «0815-Bauten» verschandelt. Ein gütiges Schicksal hat uns davor bewahrt.

Die grosse Freiheit
Es war ein lustiges Völklein, das in dieser Abbruchliegenschaft hauste. Ich erinnere mich gut, im Stockwerk über mir hatte eine Liebesdienerin ihre Absteige. Chronisch vergass sie, den Hausschlüssel bei ihren nächtlichen Streifzügen mitzunehmen. Zu allen Nachtzeiten läutete bei mir die Türglocke, und ich musste sie und den meist verdatterten Freier ins Haus lassen. Jedes Mal erhielt ich gönnerhaft einen «Schnägg» (ein Fünffrankenstück) für meine Portierdienste. Es war ein schönes Leben, und ich genoss die gewonnene Freiheit in grossen Zügen. Mehr dazu verbietet des Sängers Höflichkeit. Eines Tages musste ich irgendwie erfahren haben, dass der Zuhälter meiner Nachbarin polizeilich gesucht wurde. Nun war es an mir, mich erkenntlich zu zeigen. Bedenkenlos liess ich ihr eine Warnung zukommen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass sich meine berufliche Laufbahn auf die Seite der «Braven» schlagen könnte.

Vom Saulus zum Paulus
Ich wurde Bezirksanwalt und damit staatlicher Hüter von Recht und Ordnung. Meine Zelte schlug ich wieder im alten Quartier am Fusse des Zürichbergs auf. Dem ältesten Gewerbe blieb ich aber weiterhin verbunden. Einige unentwegte Gemeinderäte trafen sich regelmässig nach der Sitzung in der «Babalu-Bar» und schäkerten bei einem genüsslichen Schlummertrunk mit den alteingesessenen Freudenmädchen. Sie nannten uns die «Herren», und es gehörte bald zur schönen Tradition, dass wir jeweils am Chlaustag in der Bar ihre Gäste waren. Bei diesem kumpelhaften Verhältnis wunderte ich mich, weshalb sie mich in Begleitung meiner Frau keines Blickes würdigten. Es war ihre selbstverständliche Diskretion. Erst nachdem sie erfahren hatten, dass die Angetraute über meinen «Umgang» Bescheid wusste, gab es jeweils auch auf der Strasse wieder einen Schwatz. Je länger, je mehr lernten wir ihre Menschlichkeit kennen und schätzen. An einem dieser Besuche war von der Ausgelassenheit plötzlich nichts mehr zu spüren, es herrschte eine bedrückende Stimmung. Eine Kollegin war gestorben. Es wurde beraten, wie man sinnvoll ihrer gedenken könnte. Blumen kämen nicht in Frage, hiess es, ihr Sohn sei ja Gärtner. So wurde kurzum beschlossen, ihr den Grabstein zu stiften.

Der Zahn der Zeit
Seit zwanzig Jahren lebe ich wieder in der Altstadt. Und immer noch freue ich mich, wenn ich eine Bekannte aus dem horizontalen Gewerbe treffe und mit ihr über die gute alte Zeit plaudern kann. In der Altstadt sind die Prostitutionsverhältnisse verglichen mit dem Langstrassenquartier idyllisch geworden. Noch vor Jahren betonten «bessere» Altstadtbewohner, sie würden nicht in einer Strasse wohnen, in der der Strichplan gelte. Das ist Geschichte. Klagen aus der Bevölkerung bei der Stadtpolizei gibt es kaum noch.
Ganz anders sieht es im Umfeld der Langstrasse aus. Hier hat sich das Rotlichtmilieu wie eine Seuche ausgebreitet. Die jüngste Geschichte liess mich schmerzlich erkennen, dass auch an mir der Zahn der Zeit nicht spurlos vorübergegangen ist: Mein Blick für das weibliche Geschlecht hat sich getrübt. Kurz vor meinen Abschied als Polizeirichter hat mich die Sittenpolizei gebeten, mir auf Freiers Füssen ein Bild vom Langstrassenquartier zu machen. Ich gestehe durchaus ein, dass eine gewisse Neugierde mich zu diesem Streifzug in die Zürcher Halbwelt beflügelte, doch die Ernüchterung folgte schneller, als ich laufen konnte. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass sich das Sexgewerbe in diesem Quartier derart ausgebreitet hat. Ganze Häuser strahlten mit ihren rot leuchtenden Fenstern wie Christbäume. Und hinter jedem offenbarte sich wie im Adventskalender eine Überraschung, hier in Form einer leicht geschürzten Liebesdienerin. Die Polizeibeamten schickten mich als Lockvogel vor, um die Auserwählte hernach einer Kontrolle unterziehen zu können. Viele Ausländerinnen gehen hier einer Erwerbstätigkeit nach, ohne im Besitze einer entsprechenden Bewilligung zu sein. Gesagt, getan. Schnell wurde ich fündig und einigte mich mit der Dame auf den Liebeslohn. Und schon schritt die Polizei ein. Das hämische Grinsen der Hermandad blieb mir nicht verborgen. Schliesslich eröffneten sie mir, ich sei einem männlichen Prostituierten auf den Leim gekrochen. Damit ist mir klar geworden, dass ich mit diesem Kapitel Puppen abschliessen muss.
Ich werde mich fortan nur noch mit meinen Puppen im eigenen Spielzeugmuseum abgeben.


Unser Gastschreiber
Christian Depuoz (1942) wuchs in Zürich auf, wo er auch studierte. Der Jurist war Sekretär am Bezirks- und am Obergericht, dann zehn Jahre Bezirksanwalt und von 1985 bis 2003 Polizeirichter der Stadt Zürich. Heute ist er eingesetzt für Spezialaufgaben beim Polizeidepartement.
Die Juristerei ist sein Beruf, aber seine Berufung ist das Spielzeug. Zusammen mit seiner Frau Claudia hat er nach der Heirat vor bald vierzig Jahren eine Sammlung aufgebaut, die seit 1987 der Öffentlichkeit zugänglich ist, zunächst im Haus zum schwarzen Garten an der Stüssihofstatt. Seit 2001
ist das Spielzeugmuseum Sammlung Depuoz an der Englischviertelstrasse.
Er war viele Jahre im Vorstand des Quartiervereins Oberstrass aktiv und war acht Jahre im Gemeinderat. Seit zwanzig Jahren lebt er mit seiner Frau in der Altstadt.