Spuren aus der Vergangenheit

Unser Gastschreiber wohnt und arbeitet in der Altstadt. Hier finden sich Spuren aus vergangenen Zeiten und Zeugnisse früherer Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser, in denen wir heute leben.

Die Altstadt ist voller Spuren von Menschen, welche einst hier hausten und wirkten. Man findet Hinweise in Büchern, Filmen, Erzählungen und in der Architektur. Es gibt aber auch ­viele Spuren, von denen wir kaum wissen, wer sie hinterlassen hat. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist faszinierend. Die Häuser der Altstadt werden schon seit jeher durch die Bewohnerinnen und Bewohner geprägt. Wenn man sich mit der Architektur der Altstadt auseinandersetzen möchte, kommt man nicht umhin, sich mit den Menschen auseinanderzusetzen, die hier leben.
Das reiche historische Erbe sollte uns ganz besonders für einen würdevollen und besonnenen Umgang mit zeitgenössischer Kultur und einer offenen Gesellschaft sensibilisieren.

Murerplan
Wenn ich im Atelier an der Schipfe aus dem Fenster schaue, liegt die Altstadt in einer ähnlichen Perspektive vor mir, wie sie Jos Murer im 16. Jahrhundert festhielt. Vor kurzem hatte ich im Zusammenhang mit dem Conrad-Gessner-Jubiläum wieder einmal mit dieser Stadtansicht zu tun. Bei ­genauerer Betrachtung wurde mir einmal mehr bewusst, wie sich die gesamte Architektur und Struktur des Quartiers über die Jahrhunderte letzten Endes nur unmerklich verändert hat.
Bei der Vorstellung, dass Karl Moser anfangs der Dreissigerjahre, bis auf das Grossmünster und das Rathaus, die gesamte Altstadt niederreissen wollte, wird mir wind und weh. Es ist schon fraglich genug, was Gustav Gull mit seinen städtebaulichen Kahlschlägen und der Eliminierung wertvoller, historischer Bausubstanz einige Jahrzehnte davor links der Limmat ausgerichtet hat. Für seine Vision des «Gross-Zürich» riss er unter anderem den nördlichen Teil des Kratzquartiers und die Klöster Fraumünster und Oetenbach nieder. Utopie blieb der geplante «Zähringer-Durchstich», ein Boulevard quer durch die Altstadt vom Zähringerplatz zur Rämistrasse (Zeuge davon ist die abrupt endende Waldmannstrasse); und im Gegensatz zu andern europäischen Städten wurde Zürich vor der grossen Zerstörung in den Weltkriegen bewahrt.
Mit einer Schleifung der Bausubstanz wären unendlich viele Erinnerungen verloren gegangen. Dass diese historische Bausubstanz in dieser Form besteht, ist grossartig – und in ihr ­leben zu dürfen darf als grosses Pri­vileg angesehen werden. Zum sorg­samen Umgang mit dem architekto­nischen Erbe gehört auch, dass wir mit dem geistigen Erbe genauso gewissenhaft umgehen.

Haus mit Geschichte
Mit meiner Frau und meinen beiden Kindern wohne ich an der Ankengasse. Das Haus, in dem wir leben, wurde zur Barockzeit erbaut. Es finden sich viele Details, welche darauf hinweisen, dass Teile des Gebäudes sogar wesentlich älter sind. In der Wohnung wurde wohl mehrere Male der Grundriss abgeändert, Türen eingezogen oder Wände versetzt. Im Erdgeschoss beispielsweise gibt es einen Tür­bogen, welcher mittlerweile in eine Wand integriert ist und aus dem Mittelalter stammen dürfte. Im Estrich sind Fragmente von Biedermeier-Tapeten ersichtlich und Ölkreide-Notizen an Wänden, deren Sinn nicht mehr eruiert werden kann. Ein Kupferrohr, durch welches in früheren Zeiten Kaffee in die Rösterei ins Untergeschoss gelassen wurde… Gerne würde ich mehr über die Menschen erfahren, die einst in diesem Haus lebten.

Kultur und Geschichte verdichtet
Nicht nur unser Haus ist voller Geschichten und Leben. Die ganze Altstadt strotzt von unzähligen kleineren oder offensichtlicheren Spuren aus der Vergangenheit. Die Altstadt ist für mich auch deshalb so faszinierend, weil hier Kultur und Geschichte in höchstem Masse verdichtet und präsent sind. DichterInnen, DenkerInnen und KünstlerInnen leben und lebten hier. Ihrem Nachlass ist es zu verdanken, dass viele Erinnerungen bewahrt sind. Wenn ich die Trittligasse abschreite, denke ich an Robert Walser. Die Erzählungen im Grünen Heinrich von Gottfried Keller bein­halten zahllose Beschreibungen und Schilderungen von Plätzen und Gebäuden und vor allem der Menschen, welche hier lebten. Ich male mir aus, wie wohl Heinrich Bullinger seine Predigten zum Hausbuch niederschrieb, wenn ich am Grossmünster vorbeigehe. Ich sehe mir gerne die Filme von Kurt Früh an. Alle diese Protagonisten hielten wichtige Dinge über die Menschen und deren Ängste, Nöte und Freuden fest.
Ich finde es wichtig, dass wir uns als Bewohner der Altstadt immer wieder bewusst werden, wie schön es ist, mitten in dieser kulturellen Fülle leben zu dürfen.

Die Vielfalt pflegen
Ein besonderes Augenmerk sollte da­rauf gelegt werden, wie diese Vielfalt weiterhin gedeihen kann. Die Gefahr besteht, dass erfolgreiche Protagonis­tInnen und Künst­lerInnen zwar von der Gesellschaft ­einverleibt werden, aber deren eigent­liche Botschaften in Vergessenheit ­geraten.
Das Haus von Heinrich Bullinger sei ständig mit Flüchtlingen, Pfarrerkollegen und Rat- und Hilfesuchenden angefüllt gewesen. Solche Aspekte dürfen in den Vordergrund rücken und das Jubiläumsthema Reformation von Klischees befreien.
Wenn wir die Dadaisten feiern, sollte nebst der Leistungsschau ernannter Dada-SpezialistInnen vergegenwärtigt werden, dass die meisten DadaistInnen Flüchtlinge waren und durch Behörden und DenunziantInnen gedemütigt wurden. Gottfried Keller durchlebte jahrelang existentielle Nöte, bevor er gesellschaftliche Ehren erlangte. Nicht bloss an seine Medaillen und Ehrungsurkunden, sondern an seine treffenden und noch heute gültigen Abhandlungen über menschliche und soziale Themen soll erinnert werden.
Zum sorgsamen Umgang mit dem ­architektonischen Vermächtnis gehört, sich mit dem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen. Dieses wiederum evoziert den sorgsamen und offenen Umgang mit zeitgenössischer Kultur und auch der Akzeptanz Andersdenkender.
Nicht alleine die schönen Gebäude, die stilvollen knarrenden Treppenhäuser, die schrägen Parkettböden, die verwinkelten Gässlein, Seelen­fensterchen (durch welche die Seelen Verstorbener entweichen konnten) und Erker, die Gedenktafeln und Kopfsteinpflaster machen den Charme der Altstadt aus.
Es ist die Vielfalt der Bewohnerinnen und Bewohner, deren Kreativität und Verständnis für ein gutes Neben- und Miteinander.

Mathis Füssler

Unser Gastschreiber
Mathis Füssler (1971) ist in Buckten im Jura aufgewachsen. Nach dem Gymnasium in Liestal absolvierte er an der Kunstgewerbeschule Basel die Grafikfachklasse. Danach, 1997, lernte er seine heutige Frau kennen und zog nach Zürich, wo er an der Rämistrasse ein Grafikatelier eröffnete. Seit sieben Jahren befindet sich sein Atelier an der Schipfe, im Haus des Heimatwerks. Daneben wirkt er als Dozent am Institut Architektur an der FHNW in Basel. Er hat sich einen Namen gemacht als Ausstellungsgestalter (zuletzt die Gessner-Ausstellung im Landesmuseum).
1997 zog er in die Altstadt, wo er mit seiner Frau Simone und den beiden Kindern Leonie (18) und Beda (15) lebt. Er spielt Klavier in zwei Bands.