Postmodernes Fantasie-Idyll

Unser Gastschreiber Michael Eidenbenz geht in seinen Betrachtungen den Geräuschen, Tönen, Klängen nach, die er in der Altstadt vernehmen kann.

Manchmal werde ich gefragt, ob es denn nicht laut sei. Die Antwort fällt etwas ausführlicher aus. Ungefähr so: Natürlich grölen am Wochenende manchmal jene, die zum ersten Mal in der Stadt sind. Sie denken, sie seien die ersten, die zum ersten Mal hier sind. Darum grölen sie. Und gewiss ist es nicht nur ein Vergnügen, vom Vorhof des Helmhauses die tausendste Wiederholung von Bachs d-moll-Toccata oder Vivaldis «Winter» zu vernehmen. Und klar, Züri Fäscht und Streetparade bieten nicht grade akustische Behaglichkeit. – Dann aber ist es wieder so still, dass man bei geöffneten Fenstern im Sommer die Fische in der Limmat springen hört. Ein leises Plitsch-Plitsch verkündet das Mückenfrühstück der nassen Mitbewohner im Zentrum der grössten Schweizer Metropole. Und am Samstagabend verwandelt sich der Raum über der Limmat in eine dröhnende Klanginstallation der gemeinsam ihren stolzen Schall auftürmenden Kirchenglocken. Weiter oben in den Altstadtgassen gibt es dafür erstaunlich viele Wassergeräusche. Wenn der eine Brunnen aus dem Hörfeld verschwindet, meldet sich schon der nächste – eine meist unbemerkte leise Tonspur des Lebenselements zieht sich durch die alten Strassen, auf denen man beim Gehen den eigenen Schritt reflektiert von den verschiedenen Fassaden hören kann: immer ein untrügliches Zeichen dafür, dass man durch eine Altstadt geht. Könnte man schweben über den Hausdächern, wäre das Ensemble der Alltagsklänge wie ein filigran komponiertes Konzert der unaufhörlich vor sich her surrenden Zivilisation wahrzunehmen.

Hallräume
In dieses Konzert mischt sich manchmal auch die richtige Musik, gesungen oder von Instrumenten gespielt in einem der vielen Kulturräume der Innenstadt, jene Musik, die mir ebenso persönliche Leidenschaft wie berufliches Umfeld ist. Dazu gehört auch das alte Konservatorium an der Florhofgasse, seit über hundert Jahren ein Ort der musikalischen Bildung und bis vor kurzem auch mein Arbeitsort als Zentrum der Musikhochschule, ehe diese unter dem Dach der Zürcher Hochschule der Künste nach Zürich West ins Toni-Areal gezogen ist. Der Arbeitsweg führte damals also mitten durch die sanften Hallräume der Gassen, wobei das synästhetische Gesamterlebnis morgens durch die anregenden Gerüche aus Schwarzenbachs Kaffeerösterei oder aus dem Café Schober und abends durch den raffinierten Plan Lumière vervollständigt wird.

Diversität
Wäre das Ganze ein Musikstück, so wäre es vielleicht als «postmodernes Fantasie-Idyll» zu bezeichnen. Und wäre ich noch der Zeitungsrezensent, der ich einmal war, so würde ich wahrscheinlich einen gewissen Mangel an spannungstreibenden Dissonanzen monieren, es klingt insgesamt ein etwas gar zu anschmiegsames Lebensgefühl aus diesem Idyll. Doch man darf sich nicht täuschen, womöglich hören wir die Dissonanzen nur nicht.
Denn so wie das gentrifizierte Seldwyla ein erstaunliches Mass an aufrichtiger dörflicher Gesprächskultur bewahrt hat, so verkörpern auch die vielen auswärtigen Besucher nicht so sehr das Klischee der konsumfanatischen Einheitlichkeit, wie es die vielen Turnschuhläden auf den ersten Blick vermuten liessen.
In den Altstadtkirchen ist ihre Diversität am ehesten wahrzunehmen. Hunderttausende strömen jährlich durch Frau- und Grossmünster. Manche kommen nur für den pflichtschuldigen Schnappschuss, manche sehen sich gründlicher um, manche bleiben sehr lange in den Kirchenbänken sitzen und denken nach. Angehörige aller Nationen, aller Religionen, manche gewiss auch ohne eines von beiden – und was sie hier suchen und finden, ist nicht so leicht zu beantworten.
Aber sie bringen ihre Geschichten mit, von denen wir wenig wissen. Die Pfarrer erfahren manchmal davon und erzählen. Es sind nicht nur schöne Geschichten, die in die alten Kirchen getragen werden und gleichsam im Gedächtnisspeicher des Vielen hängen bleiben, das hier schon geschehen ist.

Tiefe und Weite
Und während die Besucher die globale Weite des Raums ins Altstadtzentrum bringen, geben die jahrhundertealten Mauern der Häuser eine Ahnung von der Tiefe des Brunnens der Zeit, über den wir hier wandeln. Gelegentlich öffnet er sich ein wenig. Etwa wenn die Archäologen auf dem Münsterhof gespenstische Zeugnisse vergangener Leben ausgraben.
Manchmal träumt man ihn sich auch herbei. Haben wir nicht auch schon mal Zwingli in seinem schwarzen Umhang durch die Froschaugasse huschen sehen?
Nachts verschwimmen dann die rationalen Eindrücke des Tages im obskuren Schattenspiel von Gassenlaternen und dunklen Ecken. In die geordnete sinfonische Komposition mischt sich jetzt viel freie Improvisation. Die Stundenschläge der Kirchtürme klingen nun wie harte Mahnrufe ans Gewissen für jene Letzten, die mit nebligem Sinn aus Tina-, Splendid- oder Lucy’s Bar treten. Sie glauben nicht, dass sie die letzten sind, die je als letzte eine Bar verlassen, und schleichen stumm nach Hause in den frühen Morgen. Und über allem liegt ein Schlaf der Stadt, die mannigfaltig träumt von Tiefe und Weite.
Am anderen Tag ist das den virtuosen Möwen über der Limmat egal. Sie waren schon immer da – und schreien seit jeher ohne Grund.

Michael Eidenbenz

Unser Gastschreiber
Michael Eidenbenz (1962) ist im Glarnerland aufgewachsen. Nach der Matura studierte er an der Uni Zürich Germanistik und Musikwissenschaft und erlangte am Konservatorium das Lehr- und Konzertdiplom. Danach wirkte er von 1991 bis 2014 als Organist an der Kirche Unterstrass.
Gleichzeitig arbeitete er als Journalist, unter anderem als Musikkritiker beim Tages-Anzeiger, drei Jahre als Chefredaktor der Musikzeitschrift Dissonance.
2007 trat er die Stelle als Leiter des Departements Musik der ZHdK an, deren stellvertretender Rektor er ist. Seit 2015 ist er Programmverantwortlicher der Musikfestwoche Braunwald, seit 2014 Präsident der Kirchgemeinde Grossmünster.
Seit 1981 in Zürich, lebt er seit 1989 mit seiner Frau Karin zusammen, seit 2007 wohnen die Eltern zweier erwachsener Kinder in der Altstadt.