Musikalische Brücken bauen

Unser Gastschreiber Fabian Müller ist Komponist und lebt seit Jahrzehnten in der Altstadt. Seine Leidenschaft für Musik teilt er mit seiner Frau, einer Cellistin.

Aufgewachsen im Kreis 3 und 7, hat es mich gleich nach der Mittelschule in die Altstadt verschlagen, und da lebe ich fast ohne Unterbruch und zu meinem grossen Glück bis heute. Die Nähe damals zum Konsi, wo ich in den Achtzigerjahren mit dem Cellostudi­um begann, war ein Luxus. Meine Altstadt-Reise ging von Studentenzimmer zu Studentenzimmer, von der Frankengasse an die Spitalgasse, in ein Dachzimmer von gefühlten neun Quadratmetern, wo ich kaum auf drei davon aufrecht stehen konnte. Dennoch war es heimelig und hatte alles, von der Herdplatte bis zum eigenen Telefon. Das Bad teilte ich mit ein paar anderen Studenten. In der Zeit lernte ich meine künftige Frau kennen. Doch Frauen­besuch war, wie damals noch gang und gäbe, von der Hausbesitzerin strikte untersagt. Mit akrobatischer Virtu­osität sind wir beide im Gleichschritt mit ausgezogenen Schuhen die knarrende Holztreppe hinauf und hinunter geschlichen, um unbemerkt an der Wohnung der Hausbesitzerin vorbeizukommen, natürlich nicht ohne ab und zu ertappt und entsprechend gerügt zu werden. Bald darauf wurde für ein Jahr ein Zimmer bei einer befreundeten Familie frei in einem Dacherker am Weinplatz, gleich neben dem Turnachkinderhaus. Das war eine wunderbare Zeit. Auch da war das aufrechte Stehen eingeschränkt, und ein Holzbalken quer durch die Mitte sorgte regelmässig für Beulen.
Meine Frau wohnte damals noch in ­einem Studentenheim am Zürichberg. Sie kam sehr früh aus ihrer Heimat ­Taiwan in die Schweiz, um zu studieren. Wir studierten beide Cello, und ich zusätzlich als zweites Hauptfach Komposition.

Am Weinplatz daheim
Als wir heirateten, trennten wir uns schweren Herzens von der Altstadt, aber nicht für lange, denn schon bald ging es zurück an den Weinplatz, jedoch in ein anderes Haus gleich neben dem Spielwarengeschäft Pastorini. Für zwei Musiker, die es nicht gerade einfach haben, überhaupt eine Wohnung zu finden, war das ein unverschämtes Glück. Wenn wir daran denken, wie wir zu dieser Wohnung gekommen sind, glauben wir es noch heute kaum – durch ein Zeitungsinserat! Zudem gab es, wie wir vernahmen, nur wenige Bewerber. Wir waren ehrlich und sagten gleich zu Beginn, dass wir Musiker sind, was im Allgemeinen nicht von Vorteil ist. Aber, oh Wunder, Herr Pas­torini freute sich darüber, und vermutlich auch über mein Jungunternehmertum, denn ich fing damals gerade an mit dem Mülirad-Verlag, einem Verlag für alte und spezielle Volksmusik­noten. – Nun wohnen wir schon seit über zwanzig Jahren an diesem schöns­ten Plätzchen auf Erden und gehen ­unserer Leidenschaft, unserem Beruf, der klassischen Musik nach.

Glückliche Umstände
Während meine Frau heute international gefragt ist als Solistin und Kammermusikerin, habe ich mich ganz auf das Komponieren konzentriert. Komponieren war seit meiner Jugend meine Lieblingsbeschäftigung, aber davon einmal leben zu können ein ferner Traum. Dass dieser Traum wahr wurde, habe ich vielen glücklichen Umständen zu verdanken. Äusserst inspirierend waren in den Neunzigerjahren die Sommerkurse am Aspen Music ­Festival in den Rocky Mountains in ­Colorado, die ich während vier Jahren besuchte. Beim letzten Mal 1996 gewann ich den Kompositionspreis des Festivals. Komponieren ist eine abstrakte Sache und da sind solche Referenzen sehr wertvoll. Eine der ausschlaggebenden Wendungen in meinem Schicksal war jedoch die Begegnung mit David Zinman. Ich lernte ihn kennen, kurz nachdem er nach Zürich kam und das Tonhalle-Orchester übernahm. Er kam über eine Aufnahme mit meiner Musik in Kontakt und irgendwie muss sie ihn angesprochen haben. Per Fax erhielt ich eine handgeschriebene Einladung ins damalige Restaurant «Seerose» zum Mittagessen. Der Moment, wo er mir dann eröffnete, dass er meine «Nachtgesänge», Or­chesterlieder nach Gedichten von Hermann Hesse, uraufführen wolle, wird mir wohl präsent bleiben, als wäre es gestern gewesen. Nachdem er dieses Werk 2001 in der Tonhalle zur Uraufführung gebracht hatte, öffnete er mir weitere Türen und realisierte mit ­einem der weltbesten Orchester, dem Philharmonia Orchestra in London, ­eine CD-Aufnahme mit vier meiner ­Orchesterwerke. Auch meine Frau Pi-Chin war bei einem Cellokonzert als Solistin auf der CD vertreten. Es war für uns beide ein grosser Moment.

Klausur in der Natur
Pi-Chin war damals schon stark involviert in festen Kammermusik-Ensembles und tourte durch die Welt. Auch ich war viel unterwegs, denn ich komponierte damals selten zu Hause. In solchen Zeiten suchte ich Ruhe und Ferne vom Alltag und fand beides in den Bergen, oft im Berner Oberland. Die Sommer jedoch verbrachte ich viele Jahre in Schweden am Sjiliansee in Dalarna. Die Natur und das Licht waren ungemein inspirierend und viele meiner frühen Werke entstanden dort. Schon die erste Reise ohne Eltern mit sechzehn Jahren führte mich per Interrail nach Lappland; seither liess mich das Fernweh nach dem Norden nie mehr los. Noch immer pflege ich das Ritual, dass ich bei Beginn eines neuen Werkes für ein paar Tage in Klausur gehe. Seit vielen Jahren ist nun St. Gerold im Vorarlberg zu meinem Refugium geworden. Sind dann einmal ein paar Skizzen und Ideen geboren, kann ich heute auch wunderbar zu Hause ­arbeiten.

Das Verbindende suchen
Noch ein anderes Land wurde wichtig in meinem Leben und zu einer zweiten Heimat, nämlich Taiwan, wo meine Frau herkommt. Als Pi-Chin und ich damals heirateten, gab es viele Unkenrufe der Art: «Das wird vermutlich schwierig werden bei so grossen kulturellen Unterschieden, und erst noch zwei Musiker!» Im Gegenteil. Die beiden Kulturen zu erleben und zu verbinden, war für uns immer – und bis heute – eine grosse Bereicherung. Vielleicht ist deshalb in unseren Projekten das Brückenbauen zu einem Anliegen geworden, zwischen Ost und West, aber auch zwischen Musik­genres wie Klassik und Volksmusik. So organisieren wir in Taiwan seit 2013 regelmässig musikalischen Austausch zwischen Musikern Taiwans und der Schweiz.
Seit vielen Jahren hegten wir den Traum, auch in Zürich ein kleines Musikfest ins Leben zu rufen, wo es eben genau um solche musikalische Brü­cken geht. Letztes Jahr packten wir es an, so dass nun diesen Frühling zwischen dem 29. April und 13. Mai erstmals an drei Samstagen und einem Freitag ganz neuartige Konzert-Abende stattfinden, im Herzen von Zürich, in der renovierten und in neuem Glanz leuchtenden St.-Anna-Kapelle. Das ­Zusammenfliessen von Kulturen und Genres in diesen Konzerten gaben dem Musikfest den Namen: «Confluence» (www.confluence-zurich.ch). Wer gerne aussergewöhnliche Musik geniessen und die enge Verbindung von Volksmusik und Klassik erleben möchte, ist bei uns herzlich willkommen. Als Finale gibt es sogar einen rauschenden Biedermeier-Ball im Saal der Stiftung zum Glockenhaus, wo man einen Abend lang in Wiener Walzermelodien und anderem schwelgen kann.

Fabian Müller


Unser Gastschreiber
Fabian Müller (1964) ist freischaffender Komponist. Seine Werke wurden durch grosse Musiker unserer Zeit, wie David Zinman, Andris Nelsons oder Steven Isserlis uraufgeführt und erklangen in renommierten Sälen wie der Carnegie Hall, dem Teatro Colon oder der Tonhalle Zürich. – Im Anschluss an seine Celloausbildung am Zürcher Konservatorium studierte er Komposition in Zürich und den USA. Er wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und war 2016 für den «Schweizer Musikpreis» des Bundesamtes für Kultur nominiert. Nebst seiner Tätigkeit als Komponist gilt sein Interesse der Volksmusik. Er lebt mit seiner Frau, der schweizerisch-taiwanischen Cellistin Pi-Chin Chien in der Altstadt.