Musikalisch und frivol

Unsere Gastschreiberin hat in jungen Jahren das Niederdorf als musikalisches Mekka erlebt. Heute führt sie, nicht weniger begeistert, Touristengruppen durch die Altstadt.

«Was sagen deine Eltern dazu, dass du hier bist?» wurde eine Freundin von mir einmal gefragt. Das muss ja an einem zwielichtigen Ort gewesen sein! Die junge Frau sass in der «Bauernschänke» im Zürcher Niederdorf! Es war in den 1970er-Jahren, und damals haftete dem «Dörfli» halt noch der Ruf der Sündhaftigkeit an. Dieser Ruf war auch nach Baden gedrungen, wo ich aufgewachsen bin. Und mir war klar, das Niederdorf hiess so, weil man dort seinen «niederen Instinkten» folgte. Als ich als Jugendliche dann dort selber einen Augenschein nehmen konnte, staunte ich nicht schlecht über die Damen in knappster Gewandung an Strassenecken und über die Fotos im Aushang von einschlägigen Bars, auf denen «Fraue i de Underhose irgendsone Show» zeigten, wie Züri West später singen würden. Aber ich fands super im Dörfli, mich interessierten vor allem die Musikanten, die damals noch die Gassen der Altstadt beschallen durften. Weniger die «Dylans für Arme», wie wir
die schmächtigen Jünglinge nannten mit ihren blutleeren Versionen von «Blowin’ In The Wind», sondern die coolen Typen, die losrockten wie kleine Hendrixe und oft sogar Verstärker dabeihatten. Das roch nach wildem Rock’n’Roll-Leben. – Als mich mein Studium an der Uni dann täglich nach Zürich führte, lockte natürlich auch das Niederdorf, vor, zwischen, nach und oft auch statt den Vorlesungen.

Musikalisches Mekka
Das «Dörfli» wurde zu meinem musikalischen Mekka, oder zu meinem «musical hug» – meiner musikalischen Umarmung. Auf diesen Ausdruck sollten mich später amerikanische Touristen bringen: Als ich mit ihnen beim Musik Hug vorbeispazierte, fragten sie mich amüsiert, was denn «Musik Hug» bedeute. Ob das ein «musical hug» sei? «Hug» heisst Umarmung. Unzählige unvergessliche Nächte verbrachte ich in den vielen Musik- und Tanzlokalen. Im «Bazillus» im Hotel Hirschen horchte ich ehrfurchtsvoll internationalen Jazz-Grössen, im «Limmatquai 82» verliebte ich mich in lokale Matadoren. Im «Music Temple Z 33», einem Club, der sich Ende 1980er-Jahre im oberen Stock des «Johanniters» befand, feierte ich schliesslich meinen eigenen ersten musikalischen Höhepunkt: die Taufe meiner ersten Platte mit meiner damaligen Band «Sara Sahara and the Dunes»… Tempi passati.

Mozart zu Gast
Wenn ich heute durchs Niederdorf spaziere, dann wohl noch begeisterter als damals und oft mit einer Schar Menschen im Schlepptau, denen ich als Stadtführerin von Zürich Tourismus die Reize der malerischen Gassen zeige und die Geschichten hinter den jahrhundertealten Mauern erzähle. Zum Beispiel diejenige des Hauses zum Schwanen an der Münstergasse 9. Da wohnte einst Salomon Gessner, der in ganz Europa bekannte Landschaftsmaler, Dichter und Gründer der «Zürcher Zeitung» (später NZZ). Rund 220 Jahre bevor ich ganz in der Nähe im «Castle-Pub» zum Commodores-Hit «Brick House» aus dem Häuschen geriet, geriet man im Hause Gessners über ein zehnjähriges Wunderkind in Verzückung: 1766 war der kleine Mozart dort zu Gast mit seinem Vater und seiner Schwester Nannerl. Wolferl gab vor erlauchter Gästeschar ein Konzert und soll sich dazu etwas Spezielles ausgedacht haben: Er legte ein Tuch über die Klaviertastatur und erklärte, er spiele sein Menuett nun mit verdeckten Händen, und sollte ihm dabei ein Fehler passieren, würde er sich den fehlbaren Finger abhacken. Offensichtlich und zum Glück kam es nicht so weit. Apropos blutrünstig: Solche Vorstellungen waren schon früher mit diesem Haus verbunden. In den 1550er-Jahren wurde es zu einem – für damalige Verhältnisse – prunkvollen Gebäude umgebaut. Sehr zum Missfallen der missgünstigen Nachbarn. Eine Frau soll darob dermassen erzürnt gewesen sein, dass sie einen Schmähbrief verfasst und darin Gott gebeten haben soll, allen an diesem Hausbau Beteiligten sämtliche vier Glieder abfaulen zu lassen.

Haus mit Geschichte
Oder zurück zum Hotel Hirschen, in dessen Saal ab den 1960er-Jahren gerockt wurde, Black Sabbath mit Ozzy Osborne zum Beispiel hätten dort «öffentliche Proben» durchgeführt, wie die Band später erzählte. Vorher, ab den 1930er-Jahren wurde dort jahrzehntelang hochkarätiges Polit-Kabarett geboten, erst vom deutschen Cabaret Pfeffermühle, dann von unseren Schweizer Cabarets Cornichon und Fédéral. Fürs Cabaret Cornichon schuf einen Stock tiefer der Maler Alois Carigiet Werbeplakate und Bühnenbilder. Sein Bruder Zarli war ebenfalls Mitglied des Cabarets. Alois hatte sein Atelier also in jenem Kellergewölbe, in dem man heute Weine und Häppchen geniesst und das «Weinschenke» genannt wird. Tritt man gesenkten Blickes in die Bar, schaut man als erstes tief ins Mittelalter hinunter: in den Sodbrunnen aus dem Jahr 1340. Zu jener Zeit war das Haus ein Hospiz des Predigerklosters und der Keller sein Lager. Rund 200 Jahre später hatte hier unten ein Schmied seine Werkstatt, und oben führte er nebenbei den «Gasthof zum Schermesser». Erst anfangs 18. Jahrhundert wurde aus diesem der «Gasthof zum Hirschen». Und – was man sich heute fast nicht mehr vorstellen kann: Aus der ehemaligen Schmitte im Keller wurde ein Pferdestall.

Zupfstuben
Zurück zur frivolen Seite des Niederdorfs. Dort, wo sich heute das idyllische Leuenplätzli befindet, stand bis in die 1930er-Jahre eine weitere Häuserzeile. Die dunkle enge Gasse dazwischen nannte man auch «Seuchengasse». Nebst Krankheitserregern gab es dort aber auch Erreger öffentlicher Ärgernisse: die als Tabakläden getarnten Zupfstuben. Um die also in mehrfacher Hinsicht unhaltbaren Zustände zu verbessern, wurde die eine Häuserzeile abgebrochen, die verruchte, wie es damals in der NZZ hiess. Der Abbruch wurde dort lobend erwähnt. Ich höre noch heute lobende Worte darüber: Die Touristen, die ich dort vorbeiführe, schwärmen in den höchsten Tönen von dem lauschigen Plätzli.

Regula Sager

Unsere Gastschreiberin
Regula Sager (1958) ist in Baden aufgewachsen. Nach der Matur studierte sie an der Uni Zürich Anglistik und verbrachte ein Jahr in Vancouver, Kanada. Anschliessend diverse Tätigkeiten, als Englischlehrerin, bei einem Pressebüro. 1990 begann sie als Radiomoderatorin zu arbeiten, für Opus Radio, Radio Argovia. Seit 1996 ist sie Moderatorin bei Radio DRS1 resp. SRF1 und moderiert an kulturellen Anlässen.
Daneben zieht sich die Musik wie ein roter Faden durch ihr Leben, als Sängerin in diversen Bands, ihre eigene: Regi Sager & Special Edition.
Seit 2009 Stadtführerin bei Zürich Tourismus. 2016 erschien ihr Buch «Zürcher Liebesgeschichten» (Elster Verlag). Sie lebt seit 1983 in Zürich.