Über die Flüchtigkeit der Heimat

Unser Gastschreiber David Garcia war seine ersten Lebensjahre in Madrid, kam dann ins Glarnerland und lebt heute in der Altstadt. Er geht der Frage der Bedeutung von Heimat nach.

«Und was soll ich ganz genau da?», so lautete meine Frage, als mein Freund mir vor neun Jahren vorschlug, uns eine Wohnung an der Froschaugasse anzusehen. Wir waren seit drei Jahren zusammen und hatten nun beschlossen, zukünftig zusammen zu leben. «Eine Wohnung besichtigen. Schön soll sie sein. Und sie beisst nicht», meinte er lakonisch dazu. Ich dachte, dass er ein Witzbold sei, schwieg jedoch, da ich merkte, wie die Vorstellung, im Niederdorf zu wohnen, eine Assoziationskette in mir auslöste.

Leeres Zentrum
Vor meinem inneren Auge tauchten Kindheitsbilder vom Kreis 1 auf. Ich erinnerte mich daran, wie ich mit meinen Eltern und meinem Bruder an der Bahnhofstrasse und am Rennweg schlenderte. Der ganzen Familie boten die sonntäglichen Spaziergänge eine Möglichkeit, nach unserem Umzug von Madrid nach Ennenda (GL) etwas Urbanität zu schnuppern. Gleichwohl hinterliessen diese Stadtbesuche auch widersprüchliche Eindrücke in mir. Beispielsweise fragte ich meine Eltern wiederholt, weshalb Zürich derart menschenleer sei. Wenn diese Stadt die grösste der Schweiz sei, dann müsste es doch mehr Leute auf der Strasse geben. Sie erklärten mir, dass es in Zürich wirklich viele Menschen gäbe. Nur würden wir sie nicht sehen, da sie nicht im Zentrum wohnten. Grundsätzlich wohne kein Mensch im Zentrum einer Stadt.
Als Kind leuchtete mir diese von meinen Eltern erfundene Regel irgendwie ein. Sie hinderte mich jedoch nicht daran, zu Beginn meines Studiums ein Zimmer im Max (Leonhardstrasse 12) zu beziehen. Als Neuzürcher genoss ich die vielen Vorteile, welche ein Student/innenheim an einer derart verkehrszentralen Lage bot. Trotzdem fiel mir auch als junger Medizinstudent erneut die Leere mancher Strassenzüge im Niederdorf auf. Dieses Mal vermisste ich jedoch die Leute besonders am Abend. Viele Nebengassen waren trotz grossem Rambazamba nicht selten dunkel und leer. Es erstaunte und schmerzt mich immer noch, wie viele Liegenschaften im Quartier zweckentfremdet worden sind. Kurz: Mein Eindruck, dass in Zürich das Wohnen anderswo als in der Altstadt stattfindet, wurde bei dieser Gelegenheit nochmals bestätigt.
Und nun stand ich da und wurde darum gebeten, mich mit der Möglichkeit, in der Altstadt zu wohnen, auseinanderzusetzen.

Heimat
Eigentlich wusste ich ja bereits zu diesem Zeitpunkt, dass ich mich sehr gut mit einem Leben im Kreis 1 arrangieren könnte. Die wichtigere Frage, welche sich mir aber nun stellte, war, ob die Altstadt auch eine Heimat für mich werden könnte.
Ich bin in La Linea de la Concepción (Cádiz), der spanischen Grenzortschaft zu Gibraltar, geboren. Bis zum zwölften Lebensjahr bin ich allerdings in Madrid aufgewachsen. Die emotionale Übereinstimmung zwischen Geburts- und Wohnort, welche viele Menschen als Heimat definieren, ist mir in diesem Sinne fremd. Diese örtliche Diskordanz ist gleichwohl keine Seltenheit, theoretisch hätte ich in der Hauptstadt trotzdem ein heimatliches Gefühl entwickeln können. Aufgrund der unruhigen politischen Zeiten nach der Franco-Diktatur bot die Stadt meiner Familie jedoch keine Wohnkonstanz. Mehrfach mussten wir innert weniger Jahre das Quartier wechseln, so dass ich die heimatliche Verankerung, welche insbesondere die Primarschule den Kindern bietet (man denke nur an die spätere Wichtigkeit von Klassenzusammenkünften), nur marginal kenne.
Nach dem familiären Sprung ins Glarnerland spitzte sich die Heimatfrage zu. In- und Ausländerdiskussionen stützen sich auf Heimatdiskurse, welche sich gerne wiederum um reale und/oder gefühlte Sprach- und Kulturunterschiede kristallisieren. Damit bin ich, der bereits erprobte Stadtnomade, stets irgendwie zurechtgekommen. Verstörender empfand ich bereits damals die Tatsache, dass mein Umfeld – und damit meine ich sowohl das spanische als auch das schweizerische – mir das Recht auf Heimat verwehrte. Nirgends wurde ich ungezwungen in die jeweilige Gruppe eingeschlossen. War ich den einen zu temperamentvoll, klagten die anderen über meine kühle Rationalität. Gleichzeitig war ich in beiden Welten jenes exotische Element («Sag doch mal was auf Spanisch bzw. Deutsch!»), woran sich das eigene Heimatgefühl meines Gegenübers widerspiegeln konnte. Es war auch in jener Zeit, als ich realisierte, dass meine Muttersprache Begriffe wie «Vaterland» oder «Ursprungsland», jedoch kein explizites Wort für «Heimat» besitzt. Ein Teil von mir konnte also etwas ausdeutschen, was dem anderen nur Spanisch vorkam.

Kontext
Im Verlauf meines Lebens habe ich gelernt, dass meine Heimatsehnsucht nicht durch ein automatisches Kongruenzgefühl, einen nationalistischen Reflex, eine sprachliche Sicherheit oder durch eine biographische Kontinuität zu stillen ist. Meine Heimat ist eben kein Ort, kein Wort und keine Zeit, sondern eine Kombination davon.
Mit diesem Wissen gelang es mir, in der Altstadt heimisch zu werden: Beim samstäglichen Zmorge mit meinen Freund/innen im Café Schober, beim darauf folgenden Marktbesuch bei den Wegmanns auf der Gemüsebrücke, bei der Galerie «Coin de vue» an der Kruggasse, wo grossartige Geschichten zu Kunst und Künstlern gehandelt werden, beim Anblick der Adventlichter am Rindermarkt, welche die Zeit anzuhalten scheinen und natürlich bei meinen wöchentlichen Sitzungen im Gemeinderat, wo ich mich für die Verbesserung der Lebensqualität aller Stadtbewohner/innen – aber insbesondere jene in der Altstadt – einsetze.
Meine Heimat ist fluid, dynamisch und unfassbar zugleich. Ich trage sie stets in und mit mir. Für einige tönt das furchtbar kompliziert. Ich empfinde es im Gegensatz als eine Bereicherung, ein Privileg. Jenes der Heimatlosen.

David Garcia


Unser Gastschreiber
David Garcia (1975) ist bis zur fünften Klasse in Madrid aufgewachsen, bis die Familie in die Schweiz übersiedelte, nach Ennenda im Glarnerland. Nach der Rückkehr der Eltern nach Spanien ab 1993 bei einer Gastfamilie in Mollis. 1995 kam er nach Zürich, Medizinstudium an der Uni Zürich bis 2001. Gearbeitet im Paracelsus-Spital in Richterswil, zwei Jahre in Königsfelden, zwei Jahre bei der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich, dann 2006 bis 2015 am Unispital an der Klinik für Psychiatrie/Psychotherapie, zuletzt Leitung Psychiatrie-Notfall. Seit 2015 Leiter Schwerpunkt Geschlechtervarianz am Unispital Basel.
Politisch engagiert seit 2010 bei der AL, seit Februar 2017 im Gemeinderat. Leidenschaftlicher Sammler von Art-Brut-Kunst. Er lebt seit 2008 mit seinem Partner in der Altstadt.