Die Altstadt als Biotop
Unser Gastschreiber Jan Grimm lebt seit zehn Jahren in der Altstadt. Im Innenhof hat er ein Mauergärtlein angelegt, das von Jahr zu Jahr üppiger grünt und blüht und auch diverse Insekten und Vögel anzieht…
Seit zehn Jahren in der Froschaugasse. Was, schon zehn Jahre? Gerade eben noch aus dem Nest der Eltern ausgeflogen, direkt im Musikerhaus an der Froschaugasse 20 gelandet und schon eine Dekade im Dörfli im Dachstock am Zwitschern.
Zwitschern in verschiedenen Frequenzen. Mal auf der Querflöte Melodien am Üben, mal im Bioladen «Vitus» an der Ankengasse fürs Quartier da zu sein, mal auf den Dächern von Zürich à la Karlsson vom Dach die Mauersegler zu begrüssen oder mal im Mauergärtli neben dem Musikerhaus die Pflänzli zu hegen und pflegen und für Herr und Frau Nachbar zur Stelle zu sein und zu verbinden.
Welche Magie ist es, die mich seit zehn Jahren an der Froschaugasse täglich verzaubert?
Ist es die Urbanität mit den so vergnügt lebhaften Gastwirtschaften, wo der gesellschaftliche Ethanol gepaart mit Abenddämmerung den Stimmbändern unverhoffte Sonorität verleiht? Sind es die exzessiven, lallenden respektive tieftriefend-markierenden selbsternannten Nachtschwärmer-Kaiser des ausartenden Wochenendes? Oder etwa die müssigen Touristengruppen, die mit ihrem tiefenentspannten Schlendergang das sonst entschleunigte Grosi mit dem Rollator zum Überholen motivieren? Sind es die so attraktiven Riesenfeste, wo die gelebte Synchronizität der Masse ekstatisch die alten Hausmauern seismisch spürbar erbeben lässt? Ist es der surrende Himmel mit lauter Hobbydrohnenpiloten-City-Viewing-Voyeuristen? Sind es die Stadtführerdiven mit Megafon, die bei jedem einzelnen ihrer Starauftritte voller Inbrunst und Wallungen den armen Christoph Froschauer mit Herrn Huldrych Zwingli zum abertausendsten Mal zum Fastenbruch nötigen mithilfe der berühmt-berüchtigten Wurstessen-Geschichte? – Wohl kaum.
Begegnungen
Es sind die täglichen Begegnungen und Gespräche mit Herrn und Frau Nachbar, die mit viel Freud und etwas Leid diesen geschichtsträchtigen Gemäuern der Zürcher Altstadt ein herzhaftes Gesicht schenken und mir immer wieder von neuem ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. Es sind die teils ulkigen Unikate von Menschen, die von der Dörfli-Nachbarschaft getragen werden und zeitgleich von so manchen Aussenstehenden schräg angeschaut werden. Es sind die Altstadtkinder, die, trotz der recht ganzheitlich zugepflasterten Innenstadt, wie in der freien Natur vergnügt miteinander spielen und durch ihr emsiges «Räuber und Poli» jedes Herz erwärmen. Es sind die verschmitzten Quartierkinder in Zweiergrüppli, die im Bioladen «Vitus» plötzlich vor der Theke wie versteinert stehenbleiben, bis sie ein Schöggeli vom wachsamen Verkäufer hinter dem Ladentisch als Schutzpfand wohlwollend entgegennehmen und mit glänzenden Augen untereinander tuschelnd ihren Rundgang durch die Altstadt fortsetzen.
Das Mauergärtli
Aber nicht nur die Nachbarschaft und Jungmannschaft trägt zu dem mir liebgewonnenen Wesen der Altstadt bei. Sondern auch die vielen Quellwasserbrunnen, die unser Turicum so einzigartig machen und für mich eine Art Heimatgefühl hervorrufen. Ohne den mir ans Herz gewachsenen «Fröschli-Brunnen» der Froschaugasse wäre wohl nie der verspielte Garten neben der Froschaugasse 20 entstanden. Mit zwei Spritzkannen bewaffnet ströme ich an sommerlichen Tagen dreimal aus, um die Vielfalt der Flora und Fauna des wahrhaftig farbenfrohen Mauergärtli zu unterstützen. Eine ganze Brunnenladung reicht genau für einen Wasser-Rundgang aller Pflänzli aus. Es sei denn, ich war zu grosszügig zu gewissen wasserdurstigen Individuen, dann muss der etwas spiessbürgerliche Gartenschlauch doch noch aushelfen. Ich bin erstaunt, wie stark die Resonanz des Gartens auf die Nachbarschaft wirkt. Viele Nachbarinnen helfen beim Giessen und Bepflanzen mit und immer wieder kommen neue strahlende Nachbarsgesichter für einen gemütlichen Gartenrundgang vorbei.
Seit das Stadtmauergärtchen den Froschauer Innenhof mit grünem Gold beschenkt und jedes Jahr wieder neue, total unvorstellbare olfaktorische Wunder hervorbringt, kehrt auch die Tierwelt nach und nach zurück. Es fliegen farbenprächtige Schmetterlinge, es summen dicke Hummeln, es patrouillieren knallige Wespen, es werken sammelfrohe Bienen es klappern familiäre Kellerasseln, es rotieren reflektierende Libellen, es zirpen arbeitsame Grillen, es tschiepen riesige Familienbanden von Spatzen, es schmatzen wohlgenährte Raupen, es flattern gurrende Tauben, es schwirren duftende Marienkäfer, es tanzen filigrane «Müggli», es trällern balzige Buchfinken, es räsonieren wendige Fledermäuse, es zwitschern fleissige Kohlmeisli, es kreuchen gefrässige Schnecken gegen rennartige Schnegel und die so talentierten Sänger, die Amseln, wühlen ohne Scheu vor dem Gärtner jeden Frühling im Wurmwahn die Blumentöpfe unnachgiebig leer.
Träumen und fliegen
Wenn sich in der Abenddämmerung die Amsel auf dem Dachfirst in den wohl schönsten melodiösen Gesangswahn steigert, der Bioladen «Vitus» seine Tore schliesst, die Querflöte nach luftigem Üben wieder im Etui versorgt liegt, das Mauergärtchen und seine emsigen Bewohner zum dritten Male den Durst sättigen konnten und alle Nachbarn wohlauf in ihren vier Wänden den Bauch zu verwöhnen pflegen — dann fange ich an zu träumen und fliege im Einklang mit den Mauerseglern auf und über den Dächern von Zürich, ein Lächeln übers ganze Gesicht.
Mein grosser Dank geht an alle Bewohnerinnen und Bewohner der Altstadt! Lasst uns zusammen in den kommenden Jahrzehnten die Altstadt noch viel intensiver begrünen, sodass eine natürliche Entschleunigung durch Pflanzen- und Tierwelt entsteht, als Gegenpol zu der sich schnell drehenden Welt der Exzesse, welche unsere Altstadt und deren Bewohner oft direkt tangiert. Setzt euch weiterhin tagtäglich für eine Zürcher Altstadt mit Gesicht und Charakter ein, ihr seid die Seele des Dörflis.
Jan Grimm
Unser Gastschreiber
Jan Grimm (1989) ist in Zürich, Kreis 6, aufgewachsen, wo er als Neunjähriger begann Querflöte zu spielen. In seinen Jugendjahren studierte er an der ZHdK Klassische Musik. Es folgte eine Weiterbildung in Jazz. Er lebte ein halbes Jahr in Spanien und besuchte Romanistik-Kurse an der Uni Zürich. Heute arbeitet er als Musiklehrer an zwei Gymnasien (Kantonsschule Limmattal und Küsnacht) und macht zurzeit eine Ausbildung in Orchesterleitung an der ZHdK. Daneben ist er einmal wöchentlich im Bioladen «Vitus» an der Ankengasse hinter der Theke anzutreffen.
Seit zehn Jahren wohnt er im Musikerhaus an der Froschaugasse 20. Dort hat er angefangen den Innenhof zu begrünen. Nun wird dieser immer mehr zu einem kleinen Biotop mitten in der Altstadt.