Weihnachtsbaum-Christentum

Natürlich sondert der Stadtwanderer im Dezember trivialfilosofisches zur weihnächtlichen Bahnhofstrasse ab. Zu was denn sonst?

Lieber Strandläufer

Hoffentlich hast du dich unterdessen den Klauen des Zipperleins entwunden, das dich zum Abschwören zwang. Ich sehe darin einen Wink des höheren Wesens, das wir verehren, auch für unseren Briefwechsel. Fertig mit Bierseligkeit, Schluss mit Alkohol, Ende der Trunksucht. Ab heute reden wir von jenen wichtigen Dingen, die die Trivialfilosofie nicht zu erklären vermag.
Von der Weihnachtsbeleuchtung zum Beispiel. Ein Murren schleicht durch die Stadt, das sich in einem Wort zusammenfassen lässt: zu kalt. Das Helle ist zu hell, das Weisse zu weiss. Der warme Goldregen, das war noch Weihnachten. Die Lichtröhren, das ist – ja was denn? Hier bricht die Verlegenheit aus.
Die Leute merken gar nicht, wie recht sie haben. Leider nicht auf ihre Art. Der Lämpliglanz, das war reines Weihnachtsbaum-Christentum.
Er erinnerte an Waldweihnacht und Krippenspiel, an Schnee und Samichlaus, kurz: an die sentimentalen Ablagerungen, die wir mit uns herumtragen. Wir haben es dem Goldregen nie krumm genommen, dass er eine Kaufrauschdroge war, das hielten wir für selbstverständlich, solange das so gefühlvoll roch.
Die neue Beleuchtung macht uns Mühe, weil sie mit dem Weihnachtsbaum-Christentum aufräumt und offen zugibt: hier wird nicht ein religiöses Fest gefeiert, hier wird nur konsumiert. Die allgemeine Profanisierung hat endlich auch die Bahnhofstrasse erreicht. Der Kaufrausch braucht keine sentimentale Verbrämung mehr, die Ausnahmebeleuchtung strahlt technisch und kühl auf das Gewühl. Das alljährliche Ritual braucht keine Begründung mehr, man kann schenken auch ohne Christentum. – So viel Bekennermut hättest auch du der Vereinigung Bahnhofstrasse gewiss nicht zugetraut. Diese Leute sind leuchtende Vorbilder an intellektueller Redlichkeit. Wir müssen Abbitte leisten, lieber Strandläufer, bisher haben wir sie immer für Krämerseelen gehalten. Ihre neue Beleuchtung beweist dagegen: es sind Wahrheitssucher.
Die Sentimentalisten hingegen, die immer noch den falschen Trost der elektrischen Adventskerzen im Uhrenfenster brauchen, sie sind es, die dem Selbstbetruge huldigen. Es sind die Leute, die das Christkind durch den Samichlaus ersetzt haben, die göttliche Offenbarung durch die kommerzielle Legende.
Jetzt habe ich dir eine verkappte Predigt gehalten statt einen Männerfreundschaftsbrief geschrieben, aber das schadet dir nichts, vor allem um die Weihnachtszeit. Meine sentimentalen Ablagerungen haben eben ein fest gebautes katholisches Fundament, auch wenn sich darüber nur Ruinen erheben. Das führt dann beim Betrachten der Hängeröhren zum Absondern von Grundsätzlichem. Du weisst ja, lieber Strandläufer: ob ich ein Christ bin, ist nicht sicher, katholisch aber bin ich garantiert. – Grüss mir die Weihnachtsgans

dein Stadtwanderer