Auf den Spuren von Harald Naegeli

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Eine Gruppe von Leuten hat sich vor dem Musée Visionnaire versammelt, wo seit Monaten die dreiteilige Ausstellung zu dem als Sprayer von Zürich bekannt gewordenen Harald Naegeli gezeigt wird. Auf gehts zum «Naegeli-Spaziergang». Meret Draeyer leitet die Gruppe zu Graffitis des Künstlers im Quartier. Sie erzählt, dass, als in den 1970er-Jahren die ersten Strichmännchen an Fassaden aufgetaucht seien, Anzeigen gegen unbekannt aufgegeben wurden. Die Polizei erstellte ein Täterprofil und eines Nachts wurde das Phantom ertappt und gefasst. Eine Busse von 100 000 Franken und neun Monate Gefängnis waren die Strafe für den Unhold, das war 1984. Danach hat Harald Naegeli dreissig Jahre in Düsseldorf gelebt.

Totentanz
Zu seinen häufigen Motiven gehören Brüste sowie Augen. Seinem legal angebrachten «Totentanz» im Karlsturm des Grossmünsters sind jahrelange Verhandlungen vorausgegangen. Der in der Zwischenzeit arrivierte Künstler und Kunstpreisträger der Stadt Zürich musste seine Arbeiten am «Totentanz» im Turm allerdings abbrechen, weil er – einmal mehr – Grenzen überschritten hat, was geradezu ein Markenzeichen von ihm ist. Seine Kunst beinhaltet schlicht: Grenzüberschreitungen.
Im April 2020 hat der 1939 Geborene in Zürich im öffentlichen Raum 50 Sensenmänner gesprayt, schwarz natürlich. Dazu kam ein Totentanz der Fische am Rhein, kamen Totentänze in Köln, in Venedig. Die Idee des Totentanzes ist übrigens nicht neu. Der «Basler Totentanz» wurde im Spätmittelalter auf eine Friedhofsmauer gemalt.

Weggeputzt
Wir haben den Zwingliplatz erreicht, wo Naegeli beim Treppenaufgang von der Römergasse her zwei Graffitis gesprayt hat. Sie sollten eigentlich geschützt sein. Anlässlich der Verleihung des Kunstpreises hat die Stadt Zürich nämlich beschlossen, sieben verbleibende der ursprünglich 50 Figuren zu belassen. Das hat ein eifriger Mitarbeiter der Stadt scheinbar nicht gewusst: weg sind sie.
Unten am Limmatquai hat anfangs Oktober 2021 eine weitere der Totentanzfiguren das Zeitliche gesegnet, wisch und weg. Die wohl schönste von ihnen, die am Sockel des Waldmann-Denkmals bei der Münsterbrücke: verschwunden. Über Nacht – wie sie auch über Nacht entstanden ist.
Wir erreichen den Hechtplatz und bekommen erstmals etwas zu Gesicht und nicht nur blanke Mauern. Nur dreissig bis sechzig Sekunden braucht Naegeli zum Anbringen seiner Figuren, was erklärt, dass sie keine «Läufe» aufweisen, Tropfen, die nach unten laufen. Wieder sehen wir das Sprengen der Grenzen: ein Fuss, der am Boden in die Waagrechte von der Mauer weggeht.

Angezeigt und ausgezeichnet
An der Waldmannstrasse finden wir einen – rosa! – Flamingo. Naegeli sieht sich als Nachfahr prähistorischer Höhlenmaler. In der ETH-Garage, so erfahren wir, finden sich 37 «Naegelis», fünf davon werden derzeit im Zuge von Renovationsarbeiten aufwendig konserviert. An der Rämistrasse beim Parkhaus finden sich weitere zwei Figuren, eine am Hirschengraben, nochmals eine in der Nähe des Kunsthauses: Hier sehen wir einen Eckenbruch. Das Motiv reicht um die Hausecke herum. (Das Kunsthaus hat übrigens einen Sensenmann von Naegli neben dem Höllentor entfernt, die eingereichte Strafanzeige gegen ihn zur Zeit der Verleihung des Kunstpreises der Stadt Zürich dann schliesslich zurückgezogen, der Druck war zu gross.)
Schon ist die spannende Führung zu Ende, die den unbequemen Künstler den Beteiligten näher gebracht hat.

Elmar Melliger


PS: Der dritte Teil der Ausstellung im Musée Visionnaire am Predigerplatz läuft noch bis zum 19. Dezember, das Musée Visionnaire bietet weitere, auch private «Naegeli-Spaziergänge» an (www.museevisionnaire.ch).
Ausserdem ist die Comic-Biografie über Harald Naegeli von 1993 neu aufgelegt worden und im Museum erhältlich (Fr. 35.–). Und schliesslich läuft ein neuer Dokumentarfilm über Harald Naegeli im aktuellen Kinoprogramm.