Reiselust und Sesshaftigkeit

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Unsere Gastschreiberin Inge Kristensen ist von Dänemark in die Schweiz gekommen, hat eine Ausbildung absolviert und ist geblieben. Sie gibt einen Einblick in ihr Leben.

In Skandinavien auf die Welt gekommen, wurde ich in eine sehr sesshafte dänische Familie hineingeboren. Woher das Fernweh stammt, ist mir rätselhaft. Tatsache ist aber, dass ich schon als kleines Kind von der grossen, weiten Welt träumte. Mit knapp 19 Jahren war es dann so weit, ich habe das Gymi hingeschmissen und den Rucksack gepackt, nach Israel in einen Kibbuz sollte es gehen, das war damals, 1973, Mode unter den Jungen. Kriegerische Auseinandersetzungen in Israel haben meine Pläne durchkreuzt, ich bin nur bis Genua gekommen und mit einer Mitreisenden auf Umwegen in die Schweiz gelangt, wir sind da bei ihren Bekannten untergekommen. Von der Schweiz wusste ich nichts, nur der Vierwaldstättersee ist mir aus dem Geografieunterricht geblieben!

 

Ausbildung gemacht
Mir wurde eine Stelle in einer Institution für Behinderte im Zürcher Oberland angeboten, dort hat es mir gut gefallen, und der Heimleiter konnte eine Aufenthaltsbewilligung besorgen, was nicht ganz einfach war, James Schwarzenbach war gerade sehr erfolgreich. Schon bald habe ich mich verliebt und beschlossen vorderhand in der Schweiz zu bleiben. Deutsch konnte ich schon, in Dänemark lernen wir sehr früh Fremdsprachen, und als ich mit dem Schwiizerdütsch einigermassen vertraut war, habe ich mich um eine Ausbildung bemüht. Es brauchte einige Umwege, bis ich das Examen für meinen Traumberuf abschliessen konnte, als Biomedizinische Analytikerin (früher Medizinische Laborantin). Danach habe ich in verschiedenen Spitälern gearbeitet, vierzig Jahre lang, immer Schicht, immer hart, immer gerne.

Meine grosse Liebe, mit der ich gern eine Familie gegründet hätte, wurde mir bei einem tödlichen Autounfall genommen. Da hatte ich aber schon so lange in der Schweiz gelebt, dass ich es mir nicht vorstellen konnte, nach Dänemark zurückzukehren. Der Verlust meines Freundes war brutal, ich habe Jahre gebraucht, um mich zu erholen. Und mich in die Arbeit gestürzt, nur noch für den Beruf und das Spital gelebt. Irgendwann ist immerhin die Reiselust wieder erwacht, ich habe mehrere Kontinente bereist, in den Ferien oder im unbezahlten Urlaub, stets allein, mit minimalem Budget, dafür umso abenteuerlicher.

 

Feldforschung im Süden
Berufliche Weiterbildung war mir schon immer wichtig, und wegen meines Interesses für die Länder des Südens habe ich unter anderem den Tropenkurs besucht im Tropeninstitut Basel, auch um besser gerüstet zu sein auf meinen Reisen. Irgendwann habe ich in der brasilianischen Pampa zwei amerikanische Biologen kennengelernt, die in der Moskitoforschung tätig waren. Als sie gemerkt hatten, dass ich in einem Labor zu gebrauchen bin, haben sie mich vom Fleck weg engagiert. Die restlichen Ferienwochen habe ich dann mit ihnen verbracht und eine wunderbare Zeit im Urwald erlebt, unter einfachsten Bedingungen gearbeitet und gelebt und ganz viel über Moskitos, Tropenkrankheiten und Feldforschung gelernt. Fortan habe ich praktisch sämtliche Ferien mit den beiden Biologen verbracht, vor allem in Südamerika, viele Jahre lang, bis sie pensioniert wurden.

 

Bergsport
Mittlerweile bin ich selber pensioniert, und obwohl ich sehr gerne gearbeitet habe, geniesse ich die neue Freiheit über alle Masse. Endlich kann ich meiner grossen Leidenschaft, dem Bergsport, frönen. Alpine Bergwanderungen, Hochtouren, Gletschertouren, im Winter bin ich mit Schneeschuhen unterwegs. Meist mit dem SAC (Schweizerischer Alpenclub), ich bin in zwei Sektionen dabei und entsprechend viel unterwegs.

Auch das reichhaltige kulturelle Angebot der Stadt Zürich weiss ich zu schätzen, und bin, vor allem im Winterhalbjahr, öfters im Kino, an einem Konzert oder in einer Ausstellung anzutreffen.

Seit etwa vierzig Jahren wohne ich in der Altstadt links der Limmat. In der «Taverna Catalana» habe ich mal Martin Küper kennengelernt, den damaligen Präsidenten des Einwohnervereins, und bin bald darauf beigetreten. So habe ich mehr QuartierbewohnerInnen kennengelernt und mich auch als Mitbetreuerin des Kompostes verpflichtet.

 

Gute Nachbarschaft
In den letzten paar Jahrzehnten hat sich unser Quartier sehr verändert. Nicht zum Besseren, meiner Meinung nach. Früher habe ich sehr gerne hier gelebt, es war ruhig, man kannte sich. Inzwischen hat sich auch hier die Gentrifizierung eingeschlichen, es ist anonymer geworden und vor allem laut. Und es scheint kein Kraut dagegen gewachsen zu sein. Lärm durch Verkehrsbelastung, Touristenströme, nächtliche Ruhestörung durch laute Musik und alkoholisierte Passanten gehören zu den täglichen Herausforderungen.

Schon lange suche ich ein neues Zuhause, aber etwas Zahlbares zu finden, ist praktisch unmöglich. Es täte mir allerdings auch sehr leid, die Altstadt zu verlassen, wo ich von sehr vielen lieben NachbarInnen umgeben bin. Wo ich jeden unserer Briefträger mit Namen kenne, jeden Gärtner, der die Grünflächen pflegt, jeden der netten Mitarbeiter des ERZ, die täglich den Müll nach den nächtlichen Partys wegschaffen, und die immer für einen Schwatz Zeit finden und die sich über ein Dankeschön freuen. – Als Alleinstehende könnte ich niemals irgendwo in einer anonymen Siedlung leben, ich muss die Menschen in der Nachbarschaft kennen, damit mir wohl ist. In der Altstadt ist dies eben noch möglich, viele Leute kenne ich ja seit Jahrzehnten. Es gibt täglich spontane Begegnungen auf der Strasse, die Grillabende und andere Veranstaltungen des Einwohnervereins, Kaffee trinken mit der Nachbarin. Kleine Hilfeleistungen im Alltag, da mal eine Katze hüten, dort mal die Pflanzen giessen, sind eine Selbstverständlichkeit.

Obwohl ich mich aus verschiedenen Gründen nie habe einbürgern lassen, fühle ich mich nicht mehr wirklich als Ausländerin. Wie mich mein Umfeld diesbezüglich wahrnimmt, weiss ich gar nicht. Da ich schon lange den hiesigen Dialekt rede, denken die meisten wohl nicht darüber nach. Ich bin zwar immer noch Dänin, aber hier zu Hause!

Inge Kristensen


 

Unsere Gastschreiberin
Inge Kristensen (1954) ist in Dänemark aufgewachsen. Nach zwei Jahren Gymnasium kam sie über Umwege in die Schweiz und ist geblieben. Sie absolvierte eine Lehre als Medizinische Laborantin und arbeitete in diversen Spitälern. Sie ist viel gereist, in Asien, Afrika und Südamerika. Fast jährlich hat sie ihre Ferien oder unbezahlten Urlaub in südlichen Ländern verbracht, wo sie ehrenamtliche Feldarbeit leistete im Zusammenhang mit Tropenkrankheiten wie Malaria.

Sie liebt die Natur, ist gern in den Bergen unterwegs, im Winter mit Schneeschuhen, im Sommer unternimmt sie Hochtouren und ist in zwei SAC-Sektionen aktiv. Sie schätzt das kulturelle Leben in Zürich. Ist aktiv in der Kompostgruppe. Seit 1973 lebt sie in der Schweiz, seit 40 Jahren in der Altstadt links der Limmat.  

 

Foto: EM