An der Schipfe gelandet

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Unsere Gastschreiberin Franziska Löpfe lebt seit sechzehn Jahren an der Schipfe. Nach einigen Jahren hat sie ihr Lebensgefühl dort in Worte gefasst, die weiter unten zu lesen sind.

Nach meiner Kindheit und Jugend in drei verschiedenen Bergkantonen, nach einem Aufenthalt in den USA, landete ich glücklich in Zürich, 1969, mit knapp 19 Jahren, mit einem Maturitätszeugnis in der Tasche. Ich arbeitete, schulmüde, zuerst als Hilfspflegerin in der Anstalt für Epilepsiekranke, studierte erst später Klinische Psychologie. Eine Psychoanalyse begann ich zur selben Zeit. In den Siebzigerjahren bedeutete Studieren viel mehr als Vorlesungen besuchen und Bücher lesen. Die Welt musste neu erfunden werden. Ich wohnte in verschiedenen Zimmern und Wohngemeinschaften meist nahe der Universität. Noch vor meinem Studienabschluss fand ich Arbeit als Psychotherapeutin an einer Institution, dem Kinderpsychiatrischen Dienst, Zweigstelle Winterthur.

Wohnung freigegeben
Nach fünf Jahren Berufsarbeit bekam ich einen Sohn und drei Jahre später eine Tochter. Das hatte zur Folge, dass ich weniger arbeitete, dass wir als Familie ins Seefeld zogen und dort nach zwei Stationen in die städtische Wohnsiedlung Tiefenbrunnen. Meine Arbeitsstelle hatte ich wieder nach Zürich verlegt in eine Gemeinschaftspraxis. Zu dieser Zeit zog ich es vor, psychoanalytisch mit Erwachsenen zu arbeiten. Kleine Kinder hatte ich zu Hause.
Als unsere Kinder dann gross und grösser wurden und schliesslich auszogen, fanden wir es fair, die grosse Wohnung freizugeben. Es war trotzdem nicht einfach, eine kleinere Wohnung zu finden. Die Liegenschaftenverwaltung bot nicht ohne Weiteres Wohnungen zum Tausch an, schon gar nicht solche in der Altstadt oder gar an der Schipfe. Wir hatten aber leichteren Zugang zu Besichtigungen.

Man kennt sich untereinander
Mein Traum, im Alter in der Altstadt zu leben, erfüllte sich. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich beim positiven Bescheid laut in Begeisterung ausbrach, obwohl ich gerade in einer Beratungsstunde war.
Immer noch, nach vielen Jahren, sechzehn sind es an Ostern, schlägt mein Herz höher, wenn ich von irgendwoher nach Hause komme. Es ist dörflich, man kennt sich. Ganz zu schweigen von den schönen Häusern, den nahen Kirchen, dem Lindenhof, der mittelalterlichen Ausstrahlung. Gerne teilen wir die Schipfe mit den Touristen, da es hier keine Gastronomie mit lauter Kundschaft gibt.
Ich habe mein Lebensgefühl an der Schipfe nach ein paar Jahren in Worte gefasst, denn Schreiben wurde hier in meinem Leben immer wichtiger.

Nachbarschaft
Ich lebe seit ein paar Jahren in dieser ruhigen Ecke der Altstadt am Fluss. Es ist hier wie in einem kleinen Dorf. Die Verkäuferin von der «Marktlücke» winkt mir zu, wenn ich abends den Schlüssel im Schloss einer der ältesten Türen der Stadt drehe. Ich winke zurück. Kaum bin ich im Haus, schaut Fernando Carretero durch die Schutzbrille von der Arbeit hoch, will wissen, wer da kommt. Manchmal liegt Dolly, sein schöner Hund, vor der Ladentür und lässt sich kraulen. Fernando lächelt dazu. Er wurde vor ein paar Jahren hier in seiner eleganten Goldschmiedewerksatt überfallen und hat sich deshalb einen Hund zugelegt.
Die Leute vom Restaurant «Schipfe 16» und vom Laden gegenüber stehen oft zusammen auf der Gasse und reden. Das Restaurant bietet integrative Arbeitsplätze an. Die Betreiber der kleinen Läden an der Schipfe haben genügend Zeit und Musse, scheint mir, weil sie nicht so hohe Mieten bezahlen müssen. Manche kenne ich mit Namen, andere vom Sehen. Man nickt und grüsst sich gegenseitig. Bei allen habe ich bereits etwas gekauft, aus Neugier, und weil die Sachen, die hier angeboten werden, schön sind und handgemacht.
Fernando hat mir Ohrringe repariert. Die Kette aus Jade, die ich bei ihm erstanden habe, bringt mir Glück. In die «Marktlücke» gehe ich zum Schmökern und Kramen. Vom Betreiber der Lederhandlung liess ich mir einen Rucksack nähen und Taschen und Täschchen in allen Grössen. Aus der Tür neben seinem Ladenlokal tritt meist Magi mit ihrem Fahrrad und sagt: «Nette Leute treffen sich.» Sie hat den schönsten Balkongarten der Stadt und hat dafür einen Preis gewonnen.
Die Töpferin, Susann Kiepenheuer, unter den Arkaden weiter flussaufwärts, verkauft reizende, witzige Frauenfiguren, geeignet als Geschenke für runde Geburtstage, weil sie ihren Preis haben. Sie ist selbst eine reizende Frau. Es gelingt ihr, unter den Blicken von mehreren Passanten gelassen weiterzuarbeiten.
Frau Rossi, eine pensionierte Krankenschwester aus dem Nebenhaus, schrie früher italienische Verwünschungen aus dem Fenster. Sie erzählte mir hinten in unserem Gärtchen von ihrer Heimat, den Abruzzen. Nun ist sie tot. Ein neuer Coiffeursalon ist an der Stelle des Stoffladens eröffnet worden, doch ich bleibe der Coiffeuse in meinem früheren Wohnquartier treu. Im Stoffladen hingegen hatte ich ein paar Mal versucht, fündig zu werden. Leider ist sein Besitzer ganz der Geomantik verfallen, hat sein stadtbekanntes Geschäft mit den wunderschönen Stoffen nach fast einem Vierteljahrhundert aufgegeben. Auch einer Buchhandlung oben beim Brunnen erging es nicht besser. An sie erinnern die Fensterläden, die mit Aphorismen verziert sind: «Die Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.»
Mit dem Brunnen davor verbindet sich für mich immer noch das Gesicht einer jungen, obdachlosen Frau, die, während meines ersten Winters hier, in der Gegend hauste. Sie wusch sich mit Brunnenwasser, noch bei Dunkelheit, in der eisigen Kälte. In ihrem Gesicht lag eine ergebene Traurigkeit. Die Sorgfalt, mit der sie sich wusch, fand ich würdevoll. Nach ihr kamen andere Gestrandete. Die Sitzbänke bei den Lindenbäumen an der Sonne eignen sich zum Aufwärmen und Ausruhen.
Weiter oben grüsse ich den freundlichen Antiquitätenhändler. Doch Grossmutters Louis-Philipp-Stühle wollte er mir nicht abkaufen, aber alte Apotheker-Kästlein, die mir in der Praxis gedient hatten. Dann spähe ich zum Uferplatz des Limmatclubs, will wissen, wer draussen sitzt und etwas isst und trinkt. Ich drücke mich an Touristengruppen vorbei, die durch die engen Arkaden strömen, erreiche den üppig blühenden Garten der Blumenhandlung, sehe dort die letzten Mohikaner einer anderen Zeit, Bettina, Raffael und Anita, an einem Tisch sitzen und Abendbrot essen, werde, wenn ich Glück habe, zu einem Glas Wein eingeladen. Zuletzt geht es die Treppe hoch zur Rathausbrücke, zu Läden, die mich nicht interessieren, seit da nicht mehr Samen Mauser ist, Pastorini oder die Buchhandlung Stähelin für Sprachlehrmittel.
An der Tramhaltestelle fährt der Werbespot von Mastercard vorbei: «Sicher sein, dass man weltweit willkommen ist: unbezahlbar.»
Ich hingegen freue mich genügsam, dass ich an der Schipfe willkommen bin.

Franziska Löpfe

Unsere Gastschreiberin
Franziska Löpfe (1949) ist in Fiesch, im Bergell und in Schwanden (GL) aufgewachsen und besuchte in Glarus die Mittelschule. Nach einem Zwischenjahr ab 1970 Studium Klinische Psychologie an der Uni Zürich und psychoanalytische Ausbildung. Danach fünf Jahre beim Kinderpsychiatrischen Dienst in Winterthur tätig, ab 1980 Psychoanalyse mit Erwachsenen in Gemeinschaftspraxis, zuletzt ab 1998 fünfzehn Jahre Kindertherapie in Wetzikon. Seit ihrer Pensionierung 2013 hat sie viel Zeit fürs Schreiben verwendet. Sie hat zwei Romane und ein Fachbuch (mit dem Biowinzer Fredi Strasser) publiziert. Daneben engagiert sie sich bei Pura Verdura und macht mit bei der Kompostgruppe. Sie hat immer in Zürich gelebt, seit 2005 wohnt die Mutter zweier Kinder mit ihrem Mann Werner Fessler an der Schipfe.    Foto: EM