Stationen in der Altstadt

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Unsere Gastschreiberin Sylvia Gantenbein hat viele Jahre in der Altstadt gelebt, ebenso wie ihr Vater und ihre Mutter. Sie erzählt von ihren sehr unterschiedlichen Wohnorten.

Genau genommen hat meine Altstadt-Karriere mit meiner Taufe im Grossmünster anno 1950 begonnen, aufgewachsen bin ich aber in der Riedtli-Siedlung in Unterstrass. Meine Altstadt-Laufbahn ging 1956 weiter, als mein Vater Leo Gantenbein nach der Scheidung in den Kreis 1 zog und sein ganzes Leben lang im orangefarbenen Haus am Neumarkt 17 wohnhaft blieb. Welch vertrauter Anblick bis heute, der Neumarkt, für mich und meine Schwester! Entweder sass mein Vater an der Sonne im Rechberggarten, an einem Tischchen rund um den Brunnen vor der «Kantorei» oder mit seinen Künstlerfreunden im Kunsthaus. 1973 kam auch meine Mutter Margrit Gantenbein in die Altstadt, zuerst an die Frankengasse, dann an die Predigergasse, zuletzt an die Oberdorfstrasse, immer Orte, an denen sie leicht Kontakt zur unmittelbaren Nachbarschaft knüpfen konnte – eine typische Zürcher Altstadt-Qualität. Man kennt sich, grüsst sich, plaudert miteinander, lädt sich gegenseitig ein oder übernimmt eine Besorgung für die Nachbarin. Legendär, die geselligen Einladungen meiner Mutter auf der Dachterrasse mit Blick aufs Grossmünster! Mein Bezug zur Altstadt blieb also auf zwei Schienen bestehen, derweil ich selbst in anderen Quartieren der Stadt wohnte, nie allzu weit weg vom Zentrum. Zurück in den Kreis 1 kam ich 1988 nach einem längeren Aufenthalt an der Westküste Amerikas und fand in einer Mansarde bei einer guten Freundin meiner Mutter an der Neustadtgasse Unterschlupf. Winzig, aber wieder mit Sicht aufs Grossmünster.

Nachwuchs
Richtig ansässig im Kreis 1 wurde ich 1993 (das Jahr, als – wie passend – auf dem Dach des Hotels Storchen ein Storchennest eingerichtet wurde) mit der Geburt meines Sohnes Leander, dessen Vater Basil Dornbierer seinerseits ein waschechter Kreis-1-ler war. Ich kam zur Miete an die Trittligasse in einem Haus mit verträumtem Garten auf der Rückseite, und wenn es auch mit einem Bébé ein herausforderndes Wohnen war – Treppen überall, zierliche Geländer beim Steg zu den rückwärtigen Schuppen, Toilette eine Treppe tiefer, keine Zentralheizung und Sitzbadewanne in der Küche – so hatte es doch den ultimativen Charme einer Altstadtwohnung. Und Basil fand, dass, wenn ich schon an einer solch vornehmen Adresse wie der Trittligasse wohne, müsse ich auch ein passendes Namensschild haben, und gravierte flugs in Schnürlischrift meinen Familiennamen auf ein Goldplättchen (ich war aber glaub ich die Einzige mit einem goldenen Namensschild an der Trittligasse).
Ein paar Jahre später folgte der Umzug an die Mühlegasse, etwas mehr Komfort, aber wer wohnt schon gern mit einem Kind im ersten Stock direkt an einer stark befahrenen Strasse mit Lastwagenverkehr schon in den frühen Morgenstunden und Tramlärm vom Seilergraben her? Alles in allem, mehr Komfort als vorher und entschieden weniger Treppen, aber eben unausweichlicher Lärm und Benzingestank. Leander sass trotzdem manchmal vor dem Haus und zeichnete mit Kreide seine Kunstwerke aufs Trottoir, während grosse Lastwagen auf der Strasse nebenan an ihm vorbeidonnerten. Oh Altstadt, wie abenteuerlich sind deine Wohngelegenheiten!

Wohnglück
Dann 2001 das Riesenglück: wir konnten an die Lindenhofstrasse umziehen! Es war sozusagen ein neues Leben. Kein Verkehrsstrom mehr vor der Nase, Sicht vom Hochbett aus auf die beleuchtete ETH und die netteste Nachbarin der Welt im Parterre. Die Lindenhofstrasse wurde unser wirkliches Altstadt-Zuhause. Ganz besonders gefiel Leander die Dachterrasse, die an vielen Abenden eine super Partygelegenheit hergab. Und für mich war die Lage der Wohnung links der Limmat ideal, da mein Arbeitsort gleich «ännet de Gleis» im Kreis 5 lag, dazwischen für die täglichen Einkäufe der praktische Coop Bahnhofbrücke mit den idealen Öffnungszeiten für Berufstätige.

Wohnen ausserhalb der Altstadt
Eines Tages eröffnete mir mein Sohn, dass er gedenke, in ein paar Jahren eine eigene Wohnung zu finden. Ich müsse aber wissen, dass als Wohnort nur der Kreis 1 in Frage käme, da er ein hundertprozentiges Altstadtkind sei, im Kreis 1 aufgewachsen, im ehrenwerten Hirschengraben neun Jahre lang zur Schule gegangen, der ganze Freundeskreis wohnhaft in der Altstadt – der Fall war klar. Die Liebe hat ihn aber vor ein paar Jahren doch anderswohin verschlagen.
Einmal Altstadt, immer Altstadt? Mein Sohn meint: Heute ist die Altstadt nicht mehr, was sie war, so viele Läden oder vertraute Bezugspunkte sind verschwunden und neue mit unpassenden Logos oder greller Beleuchtung sind dazugekommen. Allerdings gibt es – neben dem heiss geliebten Kolonialwarengeschäft Schwarzenbach – für ihn immer noch einen vertrauten Bezugspunkt: das Restaurant «Schluuch». Dort kann man sich mit den Altstadtkollegen nach wie vor zum Billard treffen, und auf den Regalen stehen dort immer noch exakt die gleichen Flaschen.
Seit 2016 wohne ich im Kreis 5 in einer grossen Siedlung, auch schön, aber sozusagen das Gegenteil der Wohnsituation im Kreis 1. Hier ist man lieber anonym oder tastet sich nur beschränkt an die Nachbarschaft heran. Gut nur, dass vom Trendquartier Zürich West eine direkte Velospur in die Altstadt führt und man innert weniger Minuten ins Zentrum (oder wie die Altstädtler sagen: «in die Stadt») gelangt.

Sylvia Gantenbein

Unsere Gastschreiberin
Sylvia Gantenbein (1950) ist in Zürich geboren und aufgewachsen. Sie absolvierte die (damalige) Töchterschule der Stadt Zürich mit Handelsdiplomabschluss. Sie arbeitete an verschiedenen Stellen als Sekretärin/ Assistentin, die letzten 17 Jahre ihrer Berufstätigkeit im Filmverleih.
Sie ist eine passionierte Zeitungsleserin, gibt sporadisch Deutschnachhilfeunterricht, schätzt die Spaziermöglichkeiten in und um die Stadt und liebt das grosse kulturelle Angebot der Stadt, besonders im Bereich der Musik.
Sie lebte 24 Jahre in der Altstadt und wohnt seit sechs Jahren im Kreis 5. Sie ist Mutter eines Sohnes und im Zweitberuf Feldenkrais-Lehrerin.

Foto: EM