Mehr Raum und Gewicht
Mit David Chipperfields Erweiterungsbau gewinnt die Sammlung des Kunsthauses an Attraktivität. Neue sogenannte Interventionsräume dienen dem Dialog zwischen älterer und zeitgenössischer Kunst. Beides erhält mehr Raum und Gewicht.
Markant zeigt sich die Sammlung schon ausserhalb des Kunsthauses: Während Pipilotti Rists Riesenskulptur «Tastende Lichter» (2016/2020) des Nachts auf dem Heimplatz farbige Harmonie zelebriert, sind Kader Attias Aluminiumguss «Janus» (2020) Entsetzen und Schrecken ins Doppelgesicht geschrieben. Das kantige Werk, das neben dem Eingang zum Moser-Bau auf einer Säule liegt, tritt mit Rodins Bronze «La porte de l’enfer» (1880/1917) in einen höllischen Dialog.
Kontraste und neue Sichtweisen
Die Sammlung des Kunsthauses umfasst 100 000 Werke vom Mittelalter bis in die Gegenwart. 95 000 davon sind Arbeiten auf Papier. Ein Drittel der Sammlung hat das Kunsthaus gekauft, zwei Drittel sind Geschenke von Privaten und Dauerleihgaben von Institutionen wie der Alberto-Giacometti-Stiftung oder der Kunstfreunde Zürich. 2100 Werke sind auf dem Portal des Museums online abrufbar: etwa 1000 Malereien, 600 Arbeiten auf Papier, 330 Skulpturen/Plastiken, 25 Fotografien sowie je 15 Videos und Installationen. Knapp 1000 Werke sind dauerhaft ausgestellt.
Klar getrennt von der eigenen Sammlung sind die vier Privatsammlungen Looser, Merzbacher, Bührle und Knecht, die – abgesehen von letzterer – im Erweiterungsbau spezielle Räume erhalten haben.
Dank der günstigeren Platzverhältnisse kann das Museum die eigene Sammlung nun grosszügiger präsentieren. Entscheidend ist nicht mehr nur die Chronologie der Kunstentwicklung, sondern auch der Dialog zwischen einzelnen Werkgruppen. Kontraste sollen zu neuen Sichtweisen anregen, wie das Kunsthaus in seinem Buch «Die Sammlung in neuem Licht» (2021) schreibt. Das gilt insbesondere für die «Interventionsräume», wo zeitgenössische Kunst Gegensätze zu angrenzenden Räumen bildet. So will das Kunsthaus Gegenwart und Geschichte zusammenbringen, klassische Kunst in neues Licht rücken oder aktuelle Themen hintergründig erläutern.
Kolonialismus und Provenienz
Ein Interventionsraum findet sich im ersten Stock des Moser-Baus neben holländischer Malerei des 17. Jahrhunderts. Hier meldet sich das janusköpfige Entsetzen zurück. «Culture, Another Nature Repaired» (2014) heisst der entstellte Kopf aus Teakholz des algerisch-französischen Künstlers Kader Attia, der kriegsversehrte Soldatengesichter aus dem Ersten Weltkrieg nachbildet. Die Skulptur basiert auf Fotos, die Attia in Archiven gefunden hat. Geschaffen hat er sie in Zusammenarbeit mit Kunsthandwerkern in ehemaligen afrikanischen Kolonien. Auch das Segel «Untitled» (2018) der ägyptisch-kanadischen Künstlerin Anna Boghiguian, das von der Decke fällt, verweist auf den Kolonialismus und auf die industrielle Revolution, die mit ihrem Bedarf an Baumwolle von der Sklaverei profitierte.
Solchermassen sensibilisiert betrachtet man die nebenan platzierten Gemälde der damaligen Kolonialmacht Holland mit ihren Segelschiffen, exotischen Tieren, Galeeren-Sklaven mit ganz anderen Augen.
Ein anderer Interventionsraum dient der «Provenienzforschung». Dokumentiert werden vier Gemälde von Edvard Munch, die das Kunsthaus von 1941 bis 1946 vom Berliner Kunstsammler Curt Glaser gekauft hat. Gemäss den ausgestellten Dokumenten ging dabei alles mit rechten Dingen zu. Einen spannungsvollen Bogen dazu schlägt eine im gleichen Raum platzierte Installation zum Thema Raubkunst (2021) des französischen Künstlers Raphaël Denis.
Gender und Ökologie
Auf dem weiteren Rundgang trifft man immer wieder auf zeitgenössische Kunst. Von den 209 Werken aus den letzten 50 Jahren, die sich zurzeit auf der Online-Seite abrufen lassen, sind 70 ausgestellt. Jenny Holzers Leuchtschriftkasten «Selections from Truisms» (1984) verströmt im Eiltempo Binsenwahrheiten wie «Women love Power», aber auch erschreckend aktuelle Statements wie «Humanism is obsolete».
Mit einer verspielt-ironischen Installation reagiert Sylvie Fleury auf männlich dominierte britische und amerikanische Pop-Art. Im Durchgang zum Chipperfield-Bau macht Olafur Eliasson mit 2021 nachgebildeten Eisblöcken auf den Klimawandel aufmerksam, während im Neubau weitere Künstlerinnen wie Sarah Morris, Tracey Rose, Lungiswa Gqunta und Teresa Margolles mit eindrücklichen Werken präsent sind.
Karl Wüst