Freude an Begegnungen
Unsere Gastschreiberin Susanne Kenel arbeitet im Niederdorf, wo sie einen Bioladen führt. Sie gibt einen Einblick in die Vielfalt des Angebots in ihrer Umgebung.
Aufgewachsen in Brunnen, hat mich das Dorfleben in den 1970er-Jahren sehr geprägt. Ein damals lebendiger Kurort am Vierwaldstättersee, umgeben von Bergen, war Brunnen eine beliebte Ausflugs-Destination. Das Flair des Tourismus hat den Samen für
eine Weltoffenheit, ein Über-den-Tellerrand-Schauen, eine Freude an Begegnungen mit Menschen gelegt. Hier im Dorf gehörte mir als Kind definitiv die Welt.
Jetzt mit der «Bio-Markthalle Vitus» im Niederdorf zu sein, entspricht mir deshalb sehr. Aber der Reihe nach: Zürich, in weiter Ferne, rückte erstmals richtig in den Fokus mit den Nachrichten über das AJZ und den Jugendunruhen in den 1980er-Jahren – die Wellen der Rebellion und der Solidarität wogten bis nach Brunnen.
Zwischenmenschliches ist wichtig
Die bleibenden Erinnerungen sind allerdings meist an Zwischenmenschlichens gebunden. Marcel Iten und ich haben uns auf eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Peking gemacht, organisiert vom SSR. Unser Reiseleiter war Jonas Thiel, genannt Jo – der Anfang einer Freundschaft. Jo, im Niederdorf kein Unbekannter, hat hier unzählige Projekte mit grossem Idealismus mit initiiert: Crêperie Hirschenplatz, Café Zähringer, resp. initiiert: «Saftlade», Barfussbar… Die erste Zürcher Übernachtungsmöglichkeit fanden wir in Jo’s kleiner Wohnung an der Frankengasse, in einem noch kleineren Hinterzimmer. Mit der Eröffnung des Saftlade 1990 fand Marcel schon bald seinen neuen Arbeitsplatz im Niederdorf. Nach meinen Wanderjahren als Buchhändlerin und nach der Geburt unserer beiden Söhne schnupperte auch ich Zürcher Luft. In der Buchhandlung Humana am Stadelhofen (im jetzigen John Baker) arbeitete ich zehn Jahre lang. Das Mittagsritual war klar: Spaziergang durchs Oberdorf, Mittagessen im Saftlade, dann dem Limmatquai entlang zurück zum Stadelhofen. Wenn das Wetter gut war, reichte es noch für einen Abstecher in die Frauenbadi.
Neuer Arbeitsort, neue Branche
2005 übernahm Marcel dann den Saftlade und stellte auf ein biologisches Angebot um. Als das Ladenlokal an der Ankengasse frei wurde, war es fast naheliegend, dass er den Bio-Laden übernehmen würde. Das war 2008. Mit viel Elan und Visionen wurde das Lokal umgebaut. Wie denn so ein Geschäft im Alltag zu führen wäre, wussten meine Freundin, ihrerseits ebenfalls Buchhändlerin, und ich sehr genau. Wir sparten nicht mit Tipps und Ideen. Irgendwann waren wir wohl zu überschwänglich und dann kam die lakonische Antwort: «Dann mach es doch du.» Und voilà, seit 2010 führe ich den Vitus. – Der Ortswechsel vom Stadelhofen ins Dörfli fiel mir nicht schwer. Gibt es einen schöneren Arbeitsort als das Niederdorf? Die Umstellung von den Büchern auf den biologischen Lebensmittelhandel verlief fliessend. Die Produkte und die Lebenshaltung des achtsamen Umgangs mit der Umwelt und uns hielten schon lange vorher im Alltag Einzug.
In den Räumen von Vitus wurde vor langer Zeit Kaffee geröstet – von Henauer. Nachfolgend wurden sie dann zum Lebensmittelladen, mit Schwerpunkt «Makrobiotische Ernährung», dann abgelöst und umgestaltet zum «Bio-Dörfli». Inspiriert vom Raum wurde daraus die «Biomarkthalle Vitus», mit den zwei Marktrondells als Zentrum. Nun, besser hätte die Namenswahl nicht sein können, Vitus als Begriff für «der Lebendige, der Lebensvolle, der aus dem Wald stammende».
So verstehen wir uns als Markt, wo Natürliches eingekauft wird. Genauso aber ist Vitus ein lebendiger Treffpunkt für Gespräche und Informationen, die rege ausgetauscht werden. Ein Mikrokosmos, belebt von allen Besucherinnen und Besuchern und dem Vitus-Team.
Vielfältiges Angebot
Hat der Vitus etwas nicht, gibt es das vielleicht im «Schwarzenbach», oder umgekehrt. Biologische ätherische Öle sucht man bei uns, die gibt es aber gleich um die Ecke bei «Farfalla» am Rüdenplatz.
Zieht man den Kreis etwas weiter, erhält man eine wunderbare Ahnung von der Fülle des Niederdorfs: Für
ein kleines «Update» gibt es einen Zwischenstopp bei «Blueme under de Böge», Herr Hickel an der Schoffelgasse hat immer die passende Lampe oder das richtige Kabel parat, die «Bodega» bringt uns einen Moment der südländischen Leichtigkeit, im Restaurant «Schlauch» gibts eine Feierabend-Rösti, wenn der Tag lang war. Aussergewöhnliche Geschenke gibts in der Töpferei «Contra-Punkt» von Conny Pfister oder wenn es ganz exklusiv sein darf auch mal von «Loco d’Oro» (Goldschmied), die Lieblingssocken kommen vom Kleidergeschäft «George Koutrios», wenn die Kreativität ins Spiel kommt und umgesetzt werden will, sind die Grafiker «Clerici & Partner» die erste Wahl – alle sind sie an der Münstergasse. Die Tradition des Mittagessens im «Saftlade» setze ich fort, manchmal reicht es dann auch noch für einen Schwatz mit Erika von der «Condomeria», ein Blickfang ist die blumige Auslage bei «Urs Bergmann» immer und der Besuch im Laden versetzt einen in eine andere Welt – alle sind sie an der Münster-/Marktgasse. Unten am Limmatquai wird jeweils die aktuelle «Surprise»-Ausgabe von Daniel Stutz charmant angeboten. Das Mittagsritual führt nun an die Schipfe, mit einem Espresso-Abstecher in der «Marktlücke», und über den Lindenhof und dann wieder über die Limmat zurück an die Ankengasse.
Wenn wir nicht mit einer Selbstverständlichkeit, aber mit einem Bewusstsein durch die Altstadtgassen flanieren, wird das Wertvolle sichtbar. Ein Nährboden, der gepflegt und belebt werden will.
Susanne Kenel
Unsere Gastschreiberin
Susanne Kenel (1965) ist in Brunnen (SZ) aufgewachsen und hat eine Lehre als Chemielaborantin absolviert, gefolgt von einem Jahr als Au Pair in Kanada. Danach hat sie drei Jahre in Bern gearbeitet und mit ihrem Partner eine neunmonatige Asienreise unternommen. Sodann Buchhändlerlehre in Schwyz und drei Jahre Anstellung in Wil (SG), darauf zehn Jahre bei der Buchhandlung Humana beim Bahnhof Stadelhofen. 2010 hat sie das frühere «Biodörfli», den «Vitus» an der Ankengasse übernommen, den sie seither führt.
Sie hat zwei erwachsene Söhne und pendelt zwischen Zürich und dem Familienhaus am Obersee. Sie liest gern, ist gern in den Bergen und am See, interessiert sich für Astrologie und für Menschen und ihre Geschichten.
Foto: EM