Wo man sich noch grüsst

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Unsere Gastschreiberin Erika Knoll hat ein offenes Ohr, wenn es um Bedürfnisse und Schwierigkeiten geht – besonders jene beim Thema Sexualität. Sie führt ein spezielles Fachgeschäft.

In Zürich-Albisrieden aufgewachsen, mahnten mich die Eltern schon als Kind vor einem alleinigen Besuch des Niederdorfs, das in den 1970er-Jahren einen zwiespältigen Ruf hatte: Es war damals sowohl ein wichtiger Standort des Kleinhandels als auch die «sündige Meile» der Stadt.
Doch das Verbotene lockte, und so fing ich 1977 eine Ausbildung zur Verkäuferin in der Papeterie Racher & Co an (geschlossen im Mai 2001), im Herzen des «Dörflis» an der Marktgasse 12. Da kam auf einmal ganz viel Welt rein. Namhafte Künstler der Stadt gaben sich bei Racher die Klinke in die Hand, da die Papeterie auf Zeichen-, Malund Reprobedarf spezialisiert war. Die Welt lockte aber auch in der Mittagspause gleich vor der Türe, all diese aufregend-verruchten, für Teenager oft verbotenen Orte: die ersten offiziellen Schwulentreffpunkte der Stadt («T&M» oder «Pigalle»), Live-Jazzkonzerte in der «CasaBar», die Hippies an der Riviera am Bellevue und natürlich das «Stägefässli». Geblieben ist mir vor allem die Vielfalt an Menschen, die sich damals im Niederdorf aufhielten.
 
Noch viel mehr Welt
Da gab es eben nicht nur Tanz und Prostitution, sondern auch Kolonialwaren und Handwerk. In diesem Sammelsurium fanden alle ihren Platz, hatten alle ihren Spass.
Nach meiner Erstausbildung im Niederdorf wollte ich noch viel mehr Welt hereinlassen, inspiriert von den verschiedensten Freundschaften aus dem Herzen Zürichs. Genauso bunt war es dann auch die nächsten rund 25 Jahre: Ich war als Köchin tätig, habe dann Motorräder verkauft, einen Lieferdienst mit Freunden gegründet (das WAF – Wohnen, Arbeit, Freizeit) und darauf im ersten Bioladen Zürichs gearbeitet (dem ChornladeKollektiv). Einige Jahre später war ich Leiterin der eigens gegründeten Spielgruppe Rasselbande, bevor ich zum Kochen zurückkam: Ich führte ein eigenes Restaurant, davor habe ich Catering bei Filmaufnahmen gemacht.
 
Viel unterwegs
Ich bin immer wieder monatelang mit der Crew umhergereist, in einem eigenen Küchenwagen mit Zelt und Bänken. So war ich bei einigen «Tatort»-Folgen hinter den Kulissen mit dabei, bei «Lüthi und Blanc», bei «Wachtmeister Zumbühl» (1994) und «Propellerblume» (1997). Auch hier fand sich ein Sammelsurium an verschiedensten Menschen auf engstem Raum zusammen. Die Küche als Herz der Organisation, als Raum, in dem alle gleich sind, hat mir sehr gut gefallen. Zu Hause geht man ja auch immer in die Küche, wenn etwas passiert ist. Da lernt man schnell, dass der Assistent genauso wichtig ist wie der Regisseur, da geht es nicht mehr um Geld oder sozialen Status, sondern sie arbeiten alle am gleichen Projekt, haben alle Probleme und vor allem grad Hunger.
1989 gründete Heinze Baumann angesichts der stark steigenden HIV- und AIDS-Zahlen die «Condomeria». Kondome als primäre Verhütungsmethode, zur Verhütung von sexuell übertragbaren Krankheiten und ausführliche sexuelle Aufklärung standen von Anfang an auch bei mir im Mittelpunkt, als ich zunächst noch
«Safer-Sex-Workshops» in Zusammenarbeit mit der «Condomeria» durchgeführt hatte. Angetrieben durch das Schicksal erkrankter Freunde - und durch die allgemeine Unsicherheit dieser neuen Krankheit gegenüber - hat die «Condomeria» unter anderem Abroll-Stationen für die korrekte Handhabung von Kondomen betrieben, ganze Schulklassen empfangen und schweizweit die ersten Verhütungsmittel-Koffer der Stadt ausgeliehen. Der erste Shop an der Zentralstrasse im Kreis 3 war eine echte Sensation, Kondome konnte man zuvor nur in einer Apotheke, einer Drogerie oder im Sexshop kaufen. Von Anfang an war es uns wichtig, Wissen, aber auch Lockerheit zu vermitteln.
Wir waren nie ein Sexshop, haben nie pornographische Inhalte verkauft. Deshalb dürfen auch Jugendliche den Laden besuchen.
 
Lebensplatz und Herzensort
Nach dem ersten Jahr ist der momentane Zürcher Standort an der Münstergasse 27 frei geworden. Dann kamen zusätzliche (inzwischen wieder aufgegebene) Standorte in Bern, Basel, Luzern und Barcelona dazu. Meine Mitarbeit wurde über die Jahre immer mehr, bis ich 2008 Geschäftsführerin wurde. – Nach wie vor arbeite ich in einem Projekt, höre den Kundinnen und Kunden zu, doch anstatt der Kochkelle mit einem Vibrator in der Hand.
Auch das Niederdorf hat sich gewandelt. Die «Dörfli-Mentalität» hat sich über die letzten 45 Jahre gehalten: Vor Arbeitsbeginn mit Roger Handermann (von der Lederwerkstatt an der Stüssihofstatt) auf dem Lindenhof mit Blick aufs Niederdorf einen Kafi schlürfen, bei der «Äss-Bar» ein Brötli für den Zmittag holen, im Sommer den Jazz von Hans Widmer (Cigarren und Briefmarken, geschlossen seit 2008) herüberwehen hören, im «Saftlade» den Milchkaffee und einen Schwatz geniessen. Erinnerungen fliessen ins Jetzt. Man grüsst sich immer noch auf der Gasse, das Niederdorf ist mein Lebensplatz, Zürich mein Herzensort. Nur - leider ist das Sammelsurium nicht mehr so vielfältig wie es einmal war. Das Internet hat vieles verändert und auch das Ausgeh-Quartier hat sich verlagert. Das Niederdorf ist zahmer, ruhiger jetzt. Doch das Bild der Vielfalt ist in der Nachbarschaftlichkeit und in diesem «Biotop» des Niederdorfs, der «Condomeria», erhalten geblieben. Hier darf man sich selbst sein, egal welches biologische, welches soziologische Geschlecht man hat, egal welche sexuelle Ausrichtung oder welches Alter, nach wie vor.
 
Zürich und die Sexualität
Die Kundschaft hat sich über die Jahre verändert. Seit den Anfängen der «Condomeria» sind Zürcherinnen und Zürcher bezüglich Sexualität offener geworden. Denn es gibt jetzt verschiedenste Plattformen, auf denen man sich anonym informieren kann, in der Schule ist es auch vermehrt ein Thema. Das ist auch gut - aber besonders junge Menschen sind einer enormen Übersexualisierung ausgesetzt, vor allem durch die sozialen Medien. So ein «Biotop» wie die «Condomeria», so ein Herzensraum, ist auch heute noch wichtig. Das Internet ist von falschen Informationen durchzogen, das verwirrt oft und man hat das Gefühl, nicht mit einem realen Menschen über Bedürfnisse und Probleme sprechen zu können. In der Kategorie «Condomeria» finden alle immer ein offenes, fachkundiges Ohr an einem schamfreien Ort.

Erika Knoll


Unsere Gastschreiberin
Erika Knoll (1960) ist in Zürich-Albisrieden aufgewachsen. Sie absolvierte eine Verkaufslehre bei der Papeterie Racher an der Marktgasse. Die folgenden Jahre war sie tätig als Köchin, im Verkauf, als Spielgruppenleiterin und hat ein Restaurant geführt. Ab 1989 arbeitete sie als Aushilfe bei der «Condomeria» an der Münstergasse, seit 2008 als Geschäftsführerin.
Sie lebte in Zürich, im Glarnerland, heute wohnt sie in Oetwil an der Limmat.
In der Freitzeit trifft sie sich gern mit Leuten, geht spazieren an der Limmat und besucht kleine, feine Veranstaltungen aller Art.

Foto: EM