Von den Tücken der Tirggel
Unser Gastschreiber András Németh hat sich Zürich und der Altstadt langsam angenähert, wo er heute in seinem Geschäft seiner Leidenschaft nachgeht.
Bis vor rund zehn Jahren hatte ich noch nie einen Tirggel gegessen. Das ging erstaunlich gut und ich hatte nie das Gefühl, etwas zu verpassen. Aufgewachsen in Sursee, einer Art Niederdörfli im luzernischen Niemandsland, vernahm ich auch des Böögges Knall jeweils nur aus weiter Ferne. Wir haben uns ganz auf die Martini-Gans konzentriert, wobei der empörend stumpfe Säbel, mit dem wir uns den Gänsebraten hätten erjagen sollen, das Interesse daran schnell verblassen liess.
Trockene Angelegenheit
Die Tirggel haben mich aber trotzdem eingeholt, als ich nach vielen Jahren als Buchhändler schliesslich von den trockenen Büchern auf lokale Delikatessen umsattelte. Gerade der Tirggel zeigt exemplarisch, wie enorm Lebensmittel mit Emotionen und Erinnerungen verbunden sind. Für mich sind sie fast so trocken wie Bücher und um sie richtig zu schätzen, braucht man wohl eine Zürischnorre und muss damit aufgewachsen sein. Mich fasziniert aber die Geschichte und die kulturelle Bedeutung der essbaren Weizenbildchen umso mehr. Seit dem 15. Jahrhundert ist der Tirggel in Zürich bekannt und das Marketing mit den Bildmotiven von damals hat zur emotionalen Aufladung wesentlich beigetragen. Familienwappen oder später moderne Abbildungen der Wahrzeichen einer neuen Zeit (Bahnhof, ETH) haben das Gebäck in Zürich weltberühmt gemacht. Waren sie vielleicht sogar schon Vorläufer oder Ideengeber für die Panini-Bildchen?
Sogar Liebesbotschaften wurden in den zähen Teig gedruckt: «Der Dir dies gibt, Dich innig liebt», etwa. Wie sie korrekt genossen werden, lernen die Sprösslinge durch Erfahrung. Mit den Myriaden ausgebissener Milchzähne könnte man wohl längst das Seebecken auffüllen.
Verwinkelte Gassen
So richtig mit dem Niederdorf auseinander gesetzt habe ich mich erst, als ich mich auf die Suche nach einem zweiten Ladenlokal in Zürich machte. Davor hatte ich gemischte Erinnerungen, zum Beispiel als ich in Zeiten ohne elektronische Stadtpläne im Hosensack auf der Suche nach kleinen Programmkinos mehrmals in den verwinkelten Gassen herumirrte. Einmal hätte mein Leben vielleicht sogar eine andere Wendung genommen, hätte ich nicht ein Date verpasst. Die Dame wartete vergeblich im Café Schober, während ich ohne Plan im Dorf umherirrte und das berühmte Etablissement einfach nicht finden wollte. Das war zu einer noch früheren Zeit, als es noch gar keine Mobiltelefone gab. Da half dann auch keine Tirggeli-Nachricht mehr.
Nun kenne ich schon viele Winkel und auch den einen oder anderen geheimen Garten durfte ich schon bestaunen. Der Blick Richtung Stadt während des morgendlichen Bades bei der Landiwiese erinnert mich immer wieder an deren Schönheit. Und ich fühle mich privilegiert und erhaben, wenn ich danach den Laden an der Niederdorfstrasse aufschliesse.
Attraktiver Mix
Als Ladeninhaber interessiere ich mich natürlich nicht nur für die Schönheit und Geschichte von alten Gemäuern. Die Attraktivität als Ort zum Einkaufen ist von entscheidender Bedeutung für jede Art Geschäft. Zuweilen wird das Niederdorf da und dort etwas negativ konnotiert. Vielfach von Einwohnenden dieser Stadt, die schon lange keinen Fuss mehr auf das Kopfsteinpflaster gesetzt haben.
Darum freue ich mich über attraktive Ladenkonzepte in der Nachbarschaft und bin erleichtert, dass der Zgraggen nicht einem Kleiderladen weichen musste und nach der Geschäftsaufgabe immerhin ein Fleischsortiment erhalten bleibt. Wie wichtig auch eine Durchmischung des Angebotes ist, mussten die Läden schmerzlich erfahren, als die Restaurants über Wochen geschlossen waren und das Dorf oft zur Geisterstadt wurde.
Immer wieder werden neue Stadtkreise gehypt und entwickeln sich zu attraktiven Orten, zunächst als Ausgehmeile, danach als cooles Wohnquartier, wo schlussendlich auch eingekauft wird. Die Stadtkreise ordnen sich selber auch als Kreis und bekanntlich schliessen sich diese. Darum bin ich überzeugt, dass sich eines Tages der Fokus wieder auf die Altstadt verlagert.
Manufakturen
Und ich habe auch eine Idee, was dazu beitragen könnte. In den letzten zehn Jahren sind zahlreiche Manufakturen in Zürich und Umgebung entstanden, die geschmacklich hervorragende Produkte anbieten.
Das geht von der Bio-Trockenwurst der kurzen Wege über lokale Gins, Sirups, Mikrobrauereien, Stadthonig, Kleinröstereien und sogenannten Bean-to-bar-Schokolade-Manufakturen. Das ist eine vitale Gemeinschaft an Handwerksbetrieben, so wie ich mir das Niederdorf bis ins 20. Jahrhundert vorstelle.
Wie wäre das, wenn sich diese Betriebe statt in leeren Industriebauten an der Peripherie wieder in der Altstadt ansiedeln würden? Hybride Konzepte, wo Produktion, Verkauf und Konsumation unter einem Dach kombiniert werden. Eine nicht zu überbietende Authentizität, kombiniert mit smarten Logistik-Konzepten, die nicht auf motorisierten Verkehr setzt. Eine mittelalterliche Altstadt, die sich schon immer wieder neu definiert hat und es wieder tut.
Wer nun laut ruft, das gibt es doch bereits, dem muss ich nur recht geben. Den Beweis, dass meine Idee keineswegs nur utopisch ist, zeigt H. Schwarzenbach seit 1864 an der Münstergasse 19.
András Németh
Unser Gastschreiber
András Neméth (1970) ist in Sursee aufgewachsen und absolvierte eine Buchhändlerlehre in Luzern. Danach arbeitete er im Buchhandel in Stuttgart, Bern, Baar, Dortmund und Basel, bevor er 2008 bei den Orell Füssli Buchhandlungen in Zürich in der Geschäftsleitung tätig war. 2013 hat er seine Leidenschaft zum Beruf gemacht und das Lebensmittelgeschäft «Berg und Tal» in der Markthalle im Viadukt übernommen. Vor zwei Jahren hat er ein zweites Geschäft im Niederdorf eröffnet. Er engagiert sich in der Slow-Food-Bewegung und organisiert den Slow Food Market an der Food Zürich. Daneben ist er Präsident der Genossenschaft Schweizer Bücherbon, kocht ambitioniert und betreibt auf seiner Terrasse Urban Gardening. Er lebt seit 2000 in Zürich, heute im Kreis 5.
Foto: EM