«Meine» Altstadt von Zürich
Unser Gastschreiber Paul Hertig lebt ausserhalb der Altstadt, fühlt sich ihr aber durch verschiedene Erfahrungen und Begebenheiten verbunden.
Mein Verhältnis zur Zürcher Altstadt war lange Zeit ein distanziertes. Nicht verwunderlich für einen, der aus der Ostschweiz herzog, um in Zürich zu studieren. Der ETH lag sie zu Füssen, dennoch brauchte es Jahre, bis die leise Faszination der Altstadt zu einer engeren Verbindung führte.
Eigentlich hätte die Tatsache, dass meine Mutter einen wichtigen Teil ihrer Kindheit im Dachgeschoss des Hauses zur Glocke an der gleichnamigen Gasse verbracht hatte, eine direktere Beziehung zur Altstadt erwarten lassen. Für uns Kinder vom Bodensee waren jedoch die Ferien bei den Grosseltern in der Brunau prägender: Die Spenglerei nebenan, der «verbotene» Steilhang ennet der Sihltalbahn oder die Kaulquappen in den selbstgebauten Tümpeln in der Sihl. Später schaffte der Wohnort in Wipkingen oder dann hinter dem Albisriederplatz für ein eigenes Bild der Stadt. In diesem Bild tauchte die Altstadt nur beim Gang ins Kino auf, etwa ins Alba, Bellevue, Corso oder Wellenberg. Und jedes Mal beeindruckten mich die engen Gassen und die in ihr Geflecht eingefügten Plätze aufs Neue.
Annäherungen
Eine erste Annäherung an die erlebte Altstadt erfolgte mit dem Engagement bei Freunden als Samichlaus für Sophie und Louise. Da war neben der Ausrüstung mit Chlausgewand und Chlaussack ebenso das Rekognoszieren der richtigen Gasse und des richtigen Hauseingangs entscheidend. Das ging alles gut; und als ich eine halbe Stunde später als Überraschungsgast auch noch zur festlichen Familie stiess, fragte die kleine Sophie, ob ich der Klaus gewesen sei, weil ich denselben Ring an der Hand trage. Unvergesslich!
In den späten 1970er-Jahren fand ich mich als Mitglied der Putzfäde-Gugge wieder zur Fasnacht in der Altstadt. Und dem Brauch entsprechend im kalten Frühjahr. Auch in den engen Gassen hockte die Kälte, sodass nur das beherzte Blasen der Instrumente im Rhythmus der Gugge etwas Wärme schaffte. Oder gar ein Monsterkonzert mehrerer Guggen, beim «Turm» etwa. Oder halt der «Beizenkehr» zur Unterhaltung der Gäste – für ein Gläschen. Musik und Altstadt eins.
Chor und Theater
Jahre später dann der Telefonanruf einer guten Freundin: Sie möchte in einem Chor mitsingen, jedoch werde verlangt, dass sie auch noch einen Mann mitbringt! «Du singst doch auch gern; kommst du auch?» Somit stiess ich zum Altstadtchor, mit seinem vielseitigen Repertoire und seinem fröhlichen Singen im Keller an der Spiegelgasse. Und ab und zu auf den Gassen. Er lässt mich nicht mehr los. Auch über die Coronazeit hinweg. Es war die unvergessene Christine vom Neumarkt, die mich bei einem der Apéros vor der Chorprobe in der Neumarkt-Bar (als diese noch offen und voller Leben war) auf die Aufführung des Helfereitheaters mit dem Stück «der kaukasische Kreidekreis» aufmerksam machte. Der Besuch des Theaterstücks und die Tatsache, dass einzelne Chormitglieder mitspielten, hatte mich nachhaltig beeindruckt. Es war der Auslöser, dass ich mich später beim Helfereitheater bewarb. Und seither mit Freude mitspiele. Und damit noch mehr ein regelmässiger Besucher der Helferei und ein Durchwanderer der Altstadt wurde.
Beeindruckende Verdichtung
Das Interesse an der Altstadt, wie auch generell an den charakteristischen Ortsbildern, verband sich zunehmend mit meiner Arbeit als Architekt und Raumplaner. Die Begleitung und Beratung von Gemeinden in ihrer Ortsplanung war immer auch verbunden mit der Auseinandersetzung mit deren Ortsbild. Und da fand ich in der Altstadt von Zürich immer wieder ein herausragendes Beispiel einer beeindruckenden Verdichtung von dem, was für mich die Qualität eines «Ortsbilds» ausmacht: Die gefassten Strassenräume und Gassen mit eigenwilligem Verlauf, überraschende Austritte auf kleine Plätze und Platzräume. Versteckt hinter den Häuserzeilen helle Innenhöfe, nur ausnahmsweise durch offene Tore zugänglich, vielfältig und grün, soweit sie nicht zwischenzeitlich mit Häuschen oder Gewerbebauten verstellt wurden. Und jedes Haus mit einem anderen Gesicht und einer eigenen Geschichte.
Ein Umgang mit einer privaten «Stadtwandergruppe» durch die Altstadt rechts und links der Limmat hat dazu viele Details zu Tage gefördert: Von den römischen Mauern unter dem Lindenhof, den Ausgrabungen der römischen Thermen, über den verschwiegenen Ehgraben bis zu den Malereien im Haus an der Brunngasse, Innenhöfe und Stadtmauerreste hinter der Predigerkirche.
Milieu-Schutz
In Zürich scheint diese städtebauliche Substanz rechtlich gesichert zu sein. Was mich aber beschäftigt, sind die atmosphärischen Veränderungen in der Altstadt der letzten Jahre.
Dies betrifft zum einen den Verdrängungsprozess, den man mit dem Begriff der Gentrifizierung umschreiben kann: Laufende Renovationen und Mietpreiserhöhungen, verbunden mit einer neuen, rigiden Direktive gerade auch der städtischen Verwaltung, die alte Mieter aus inzwischen zu grossen Wohnungen hinausweist, mit engen Fristen und ohne ihnen in der Altstadt einen Ersatz zu gewährleisten. – Im ersten Planungs- und Baugesetz des Kantons stand noch der Begriff des Milieu-Schutzes, der gleichwertig zum Denkmalschutz galt. Der müsste gerade auch in der Altstadt beachtet werden.
Zum andern das veränderte Freizeitverhalten unserer Gesellschaft: Aktuell die Diskussion um «mediterrane Nächte»: Diese erweiterten Ausgehzeiten, mediterran anmutende Gartenwirtschaften besonders auch in den Gassen und Plätzen der Altstadt sowie das beliebige Festen durch die ganze Nacht setzen den Altstadt-Bewohnern zu.
Diese Entwicklungen beschäftigen mich. Weil ich mit der Altstadt vertraut geworden bin.
Paul Hertig
Unser Gastschreiber
Paul Hertig (1946) ist in Romanshorn aufgewachsen. – Sein Architekturstudium an der ETH in Zürich schloss er 1973 ab und arbeitete fortan als Raumplaner in privaten Büros, seit 1980 bei Remund & Kuster, erst in Zürich, dann in Pfäffikon (SZ). Vor elf Jahren hat er sich aus der Geschäftsleitung zurückgezogen und arbeitet noch auf Abruf. – Er lebte in Zürich zunächst in Wohngemeinschaften, bis er 1986 mit Freunden am Letzigraben ein Mehrfamilienhaus kaufen konnte, in dem er seither wohnt. Er hat einen Sohn und zwei Enkel.
Seit 1999 singt er beim Altstadtchor mit, vor zwölf Jahren ist er zum Helferei-Theater gestossen, dessen Präsidium er vor einigen Monaten übernommen hat. Ausserdem engagiert er sich beim Verein Pro Uetliberg.
Foto: EM