Zürcher Olympiaden

Unser Gastschreiber Jeremias Dubno widmet seine Betrachtungen seiner Stadt und der Altstadt, in der er lebt. In der er gern lebt. Sehr gern sogar.
Seit 1999 lebe ich in unserer prächtigen Altstadt. Das Glück hat es wahrlich gut mit mir gemeint. Nicht nur darf ich am oberen Neumarkt hausen, nein, mein Arbeitsweg dauert bloss drei Fussminuten bis an die Münstergasse, gleich neben der «Bodega Española». Derzeit allerdings ein wenig länger.
Als geneigter Leser, welcher ich als Schreibender immer zuerst bin, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen beim Anblick der Informationstafeln, welche seit grob zwei Monaten die Eingänge der Altstadt säumen. In der grössten Schrift, welche dem entsprechenden Departement zur Verfügung stehen, schwarz auf orange: «Erschwerte Anlieferung 2023 bis 2027». Eine kurze Einordnung sei erlaubt.
Natürlich sind derartige Zeithorizonte für Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner nichts Aussergewöhnliches. Man rechnet grundsätzlich eher in Olympiaden und nicht in Jahreszeiten, wenn in unserer Stadt Veränderung Einzug halten soll. Oder im Fall des neuen Zürcher Fussballstadions in Generationen. Es wäre vermutlich vermessen, derartige Abläufe als Zürcher Exklusivität einzuordnen. Dennoch, seit meiner Kindheit höre ich «Zürich ist eine grosse Baustelle». Die Altstadt bleibt davon nicht verschont.
Gräben durchziehen die Altstadt
Der aktuell eingeschlagene Vier-Jahres-Plan verursacht aber tatsächlich selten gesehene Gräben in der Altstadt rechts der Limmat. (Wie es links der Limmat aussieht, kann ich nicht sagen. Ich reise nur selten in so ferne Regionen. Ist es sicher dort? Sind die Menschen dort freundlich?) Der Begriff «Erschwerte Anlieferung» kann natürlich vielartig interpretiert werden. Aber untertrieben wurde definitiv nicht. Wer sich zurzeit im Niederdorf bewegt, tut dies entlang von offenen Gräben, tiefen Gruben, kleinen Metallbrücken, vorbei an Geländern und nicht selten sehr nahe an einem aktiv operierenden Kleinbagger. Man wähnt sich zuweilen in einem Video-Game. Im ersten Level navigiert man am Hirschenplatz zwischen Fondue-Touristinnen und Spendeneintreibern hindurch, dann über die Stüssihof-Traverse in den eng gesteckten Slalom durch Markt- und Münstergasse. Gezwungenermassen wird der Gang durch diese Gassen entschleunigt, was aber durchaus auch sein Gutes hat. Während mich damals im Unterricht nichts mehr langweilen konnte als Geologie, muss ich heute sagen, der Blick hinunter in diese Baugruben hat durchaus seinen Reiz. Für gewöhnlich ist das längere Betrachten von Baustellen älteren, ergrauten Herren vorbehalten, aber hier muss der Altstadtbewohner einfach hinschauen. Ich bemerke grad: Ich bin ja ergraut. Ach herrje.
Wieder nichts überlegt
Gut, ich kann leicht reden. Bin ich doch meist höchstens mit einem kleinen Rucksack unterwegs. Schwerwiegender, das Schild hatte es deutlich angekündigt, ist die aktuelle Lage für die zahlreichen, unermüdlichen Zulieferer der Altstadt. Weinkisten und weniger wichtige Gastro-Zutaten müssen zuweilen deutlich weiter gelupft, gekarrt und gezerrt werden.
Nun wäre es natürlich ein Leichtes, die Hände zu verwerfen und zynisch in den Kanon des «Zürich ist eine grosse Baustelle» einzustimmen: Ist das wirklich nötig? Hätte man das nicht beim letzten, nicht lang zurückliegenden Grossbau erledigen können? Hat sich denn da niemand etwas überlegt?
Nun gut, ein giftiger Zyniker ist nie aus mir geworden. Wie auch, wenn man so schön wohnen darf. Ich betrachte den städtischen Apparat nicht aus Prinzip kritisch oder sogar argwöhnisch. Gerade in infrastrukturellen Belangen lebe ich in der steten Überzeugung, dass die Stadt schon weiss, was sie tut. Schliesslich sind Wasserrohrbrüche eine Seltenheit in Zürich und auch Dysenterie und Cholera gelten, zumindest in der näheren Innenstadt, als eher rare Probleme. Die Rechnung ist schliesslich ganz einfach. Zürich gefällt sich und sonnt sich gerne auf den Spitzenplätzen der jährlich erscheinenden Listen bezüglich bester Lebensqualität. Will man weiter auf diesen Sonnenplätzen stehen, muss man dafür arbeiten, investieren und aufpolieren. Stillstand würde Rückschritt bedeuten. Jede Baustelle kann optimistisch als gewinnende Schönheitsoperation angesehen werden. Wir arbeiten kollektiv an unserem städtischen Selbstwertgefühl. Das kann doch nur gut sein.
Die zwei Haken
Natürlich hat das, auch unter positiver Betrachtungsweise, zwei kleine Haken. In einem alten Zürcher Lied steht es gut beschrieben:
Natürlich isch klar, wer nöd stahbliebe will, muess ständig au neu investiere.
De Standard wo mir eus da gwöhnt sind, laht sich nume hebe, wänn mir tüend saniere.
Die Stadt wär so schön aber meischtens isch d Schönheit versteckt hinder Plache und Hääg.
D Wohnige zahle cha niemer meh da, aber d Strasse händ neui Beläg.
Zürichs fortlaufende Schönheitsoperation führt halt eben dazu, dass das schöne Gesicht immer mit ein paar Pflastern versehen ist und da und dort noch Fäden gezogen werden müssen. Es erinnert an göttliche Bestrafungen aus der griechischen Mythologie: Du bekommst das schönste Gesicht der Welt, aber du musst es ständig mit einer Gurkenmaske bedeckt halten. Schrödingers Hausfassade!
Und natürlich, die negativen Begleitaspekte der ständigen Aufwertung dürfen nicht ausser Acht gelassen werden. Immerhin ist es in der Altstadt schwieriger, ganze Häuserzeilen unsentimental durch glasige Neubauten zu ersetzen, so wie das in anderen Stadtkreisen ständig passiert. Aber auch hier in der Altstadt wird Alteingesessenes verdrängt, Mieten werden ins Fantastische geschraubt und – last but certainly not least – auch hier zerfressen profitgierige «AirBnB-Anbieter» das soziale Gefüge. Die Schuld an dieser Entwicklung ist aber weniger bei der Stadt als bei Privaten und Unternehmen zu suchen.
Versöhnlich stimmt, dass Baustellen nicht nur in Strassen und an Häusern zu finden sind. Auch unsere Gesetze sind sich kontinuierlich verändernde Baustellen. Unsere Haltung zu diesen Entwicklungen lässt sich ebenfalls renovieren. Wir können, ebenfalls
in olympischen Intervallen, mitentscheiden, wie sich unsere Stadt entwickeln soll.
Zürich sei fertig gebaut, sagte Frau Koch damals. Ja, aber wirklich fertig ist Zürich nie.
Jeremias Dubno
Unser Gastschreiber
Jeremias Dubno (1976) ist im Zürcher Unterland aufgewachsen, erlangte in Bülach die Matura und studierte in Zürich einige Semester Publizistik und Politologie. Nach einem Praktikum in New York besann er sich anders und begann zu arbeiten. Zunächst fünf Jahre für die Sendung «Lüthi und Blanc», wo er Aufnahmeleitung machte. – Er begann zu schreiben, für Comedy-Formate des Schweizer Fernsehens («Edelmais & Co.», «Giacobbo/Müller» (acht Jahre), «Tschugger»). Daneben arbeitete er beim Club «Helsinki» und begann 2013 bei Christian Jott Jennys «Amt für Ideen», als Amtsschreiber («Trittligass», Festival da Jazz).
Der Vater eines zehnjährigen Sohnes lebt seit 1999 in Zürich, heute in der Altstadt und macht Musik, eigene Songs in Mundart.
Foto: EM