Unsichtbares sichtbar machen

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Unsere Gastschreiberin Miranda Donati lebt mit ihrer Familie in der Altstadt. Sie schätzt den Mikrokosmos, den es zu bewahren gilt. Und sie wirft einen Blick auf im Verborgenen geleistete Arbeit.

«Wir befinden uns im Jahre 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt… Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.» So fing jedes der «Asterix und Obelix»-Hefte an, welche ich als Kind mit Freude las. Unsere Altstadt verdient natürlich ein ebenso episches Intro wie das Gallien von Asterix und Obelix. Bloss, wer sind die Bewohner der Altstadt und wo drückt der Schuh (die Römer sind ja wohl weniger ein Problem)? Dem widmet sich regelmässig der Altstadt Kurier auf interessant abwechslungsreiche Art.
Wenn ich durch die Altstadt spaziere oder gegenwärtig sogar naiv versuche, mit dem Velo durch die Gassen zu kurven, dann ist die aktuelle Bedrohung bestimmt das magische Auftauchen von neuen Baustellen, Löchern und Absperrungen über Nacht und ich frage mich unterwegs, ob auf der gewählten Route ein ungehindertes Durchkommen möglich sei. Nun sind die Baustellen ja schon eine Weile hier, die Strassen aufgerissen und die Altstadt durchbohrt wie ein Emmentaler und ich muss sagen, dass ich die Bauarbeiter bewundere, wie sie jeden Tag mit unendlicher Geduld ihrer Arbeit nachgehen, obwohl sie wohl nicht selten von jemandem im Stress angefeindet werden. Ich kann meinen Unmut im Zaum halten, denn je mehr der Boden freigelegt wird, desto mehr kommt der sonst verdeckte Untergrund zum Vorschein und dieser ist recht interessant anzuschauen. Ich entdecke, was meinem Blick sonst verborgen bleibt: die Abflussrohre, die Frischwasserleitungen, die Gaszufuhr etc. Also eigentlich so was wie die Adern und Venen, die die Altstadt am Leben erhalten. Für diese funktionierende Infrastruktur bin ich dankbar und wenn sie instand gehalten wird umso mehr. Darum kann ich es auch annehmen, wenn der Nachhauseweg zurzeit ein wenig eingeschränkt ist.

Im Verborgenen
Nicht nur die Infrastruktur bleibt normalerweise im Untergrund, auch Freiwilligenarbeit bleibt oft verborgen. Dabei gibt es zahlreiche Organisationen, die Freiwillige suchen oder wenigstens die Kenntnisnahme der eigenen Existenz. Während der Pandemie habe ich die Nachbarschaftshilfe Kreis 1 & 8 kennengelernt. Neben dem Erledigen der eigenen Einkäufe habe ich auch für ältere Menschen in der Umgebung eingekauft, welche ich sonst nie kennengelernt hätte.
Beim Lebensmittelkaufen ist es einfach, die Dankbarkeit dem Essen gegenüber zu vergessen. Zeitweise sind die Regale dermassen überfüllt, dass es kaum denkbar scheint, dass in Zürich Menschen für Essen anstehen. Diese Realität existiert jedoch auf jeden Fall. Ich habe erlebt, wie «Essen für alle» eben genau das tut. Geduldig und mit viel Respekt wird Essen an alle oder eher Unzählige verteilt. Obwohl die Supermärkte wie erwähnt Essen zuhauf anbieten, kommt es mir vor, als würden die Altstadtbewohner auf Diät gesetzt. Wer selber kochen möchte, hat immer weniger Lädeli zur Auswahl, um sich für einen Znacht einzudecken. Natürlich sind wir dafür in der umso privilegierteren Lage, aus 1000 und 1 Varianten an Take-away und Restaurants auszuwählen. Wertvolle Quartierläden wie zum Beispiel Ramos am Neumarkt müssten deswegen wohl fast unter Denkmalschutz gestellt werden. Den Metzger hätten wir besser sofort zwangsgeschützt, der ist nun ganz verschwunden.

Mikrokosmos
Wer in der Altstadt lebt, weiss um den Quartiergedanken, der hier noch gelebt wird. Wir haben unseren Mikrokosmos, der uns im Alltag unterstützt. Flavio vom «White Panther» ist ehrwürdige Paket- und Kinderannahmestelle, die Altstadt-Bar an der Kirchgasse seine kompetente Stellvertretung.
Kinder und Altstadt ist nicht gerade die naheliegendste Kombination. Der Elternverein Altstadt nimmt sich aber der Aufgabe an, den Kindern mitten in der Stadt ein Quartierleben und mit der Trittliwiese den absolut notwendigen Zugang zu unbeschwerten Momenten im Grünen zu ermöglichen. Die Trittliwiese ist dabei so etwas wie das grüne Herz, welches dem Altstadtnachwuchs zwischen Sandstein und Beton die Natur näherbringt.

Freiwilligenarbeit
Die Kindergarten- und Schulkinder sind derzeit noch mehr auf Platz angewiesen als sonst schon, da das Hirschengraben-Schulhaus wegen eines Brandes nicht benutzt werden kann. Auch an den Schulen gibt es die Möglichkeit, sich freiwillig zu engagieren. Die Elternmitwirkung ist ein Gebiet, welches viel mehr Mithilfe benötigt. Möglichkeiten gibt es auf der Ebene der Schule, eines Schulkreises, der Stadt und des Kantons. Hier sind die klassischen Schwächen der Freiwilligenarbeit markant spürbar, niemand muss, alles ist freiwillig und die Ansprechpersonen wechseln ständig.
Am 14. Mai war Muttertag. Ein Tag, der wohl die unsichtbare Arbeit der Mütter würdigen soll. Je länger je mehr ist mir aber der 14. Juni lieber, an dem die Frauen streiken. Ich finde, wenn die Betreuung und die gesamte Care-Arbeit durch die Mütter wegfallen, die nach wie vor hauptsächlich von Frauen im Hintergrund gestemmt werden, erst dann wird es in der Schweiz zu einer tatsächlichen Würdigung dieser Leistungen kommen. Und mehr noch als Respekt brauchen wir einen gesellschaftlichen Wandel, der das Muttersein in der Schweiz ins Jahr 2023 katapultiert, beim Teutates!
In die Altstadt bin ich ohne Kinder gekommen, habe diese Richtung New York für die Arbeit verlassen, um mit einer Tochter im Bauchtäschli zurückzukehren. Während eines Sabbaticals inklusive Volontariat für Geflüchtete auf Lesbos waren Malaga und Napoli unser Zuhause. – Nach einem Jahr waren wir zwar traurig, dass jene Zeit zu Ende ging, aber wir sind sehr gern in dieses kleine Gallien am Ufer der Limmat zurückgekehrt.

Miranda Donati

Unsere Gastschreiberin
Miranda Donati (1980) ist in Bern aufgewachsen, wo sie an der Uni Zellbiologie studierte und ein Jahr als Wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete. Darauf folgten zwei Jahre Stammzellenforschung beim Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. 2007 bis 2013 arbeitete sie im Management Consulting, wovon anderthalb Jahre in New York. Seither ist sie tätig für eine IT-Firma in Bern. 2016 machte sie ein jähriges Sabbatical, das die Familie in Napoli, Lesbos und Malaga verbrachte.
2007 zog sie in die Altstadt, wo sie mit ihrem Mann und den zwei Kindern lebt. Sie engagiert sich für die Schule, im Elternrat, auf Schulkreis-, auf städtischer und auf kantonaler Ebene. Sie ist im Vorstand des Elternvereins Altstadt und engagiert sich bei der feministischen Gruppe EKDM.
Foto: EM