Wohnen an der Froschaugasse

Bild zum Artikel

Unser Gastschreiber Ueli Hubler kam während des Studiums in die Zürcher Altstadt und wohnt heute an der Froschaugasse.

Meinen Sie, Zürich zum Beispiel «sei eine schönere Stadt, wo man Wunder und Weihen immer als Inhalt hat»? Nein, um Gottes willen, das Zitat ist falsch. Gottfried Benn redet in sei-nem Gedicht «Reisen» von einer «tieferen Stadt». Ich sag es geradeheraus: Zürich ist für mich aber immer die schönere Stadt gewesen, das Niederdorf im Besonderen, mit seinen Eigenwilligkeiten; gebaut wurde, wie es gerade ging und passte. Das verwinkelt Eigenwillige hat mich an «Bauschtu gmahnt» (Balsthal), wo ich aufgewachsen bin.
Zürich ist sicher keine «tiefere Stadt» im Sinne Benns, obwohl ich hier einige Weihen empfangen habe, für die ich dankbar bin. In den 1970er-Jahren war das Schweizer Bildungssystem noch nicht so durchlässig. Zürich gab mir mit der «Kaämee» (KME) eine Chance.

Wohnen in Zürich
In Zürich wohnte ich 1973 zuerst am Paradeplatz in einer Pension mit Morgen- und Mittagessen. Ich kam vom Land und 1968 war an mir – in der Lehre bei der von Roll AG in der Klus – vorübergegangen. Während der Matura wohnte ich dann an der Möhrlistrasse bei Rosenbaums, danach fand ich für das Studium eine Bleibe am Seilergraben 47: Ein Zimmer mit Bett, Service und Telefon, die Wäsche wurde gemacht – praktisch; gibt es natürlich heute nicht mehr. Das Zimmer im 4. Stock mit Abendsonne ging auf den Hof mit Blick auf den Üetliberg. Auf der Westseite des Hofes, angrenzend an die Zähringerstrasse, war damals noch eine Bäckerei, heute ein asiatisches Restaurant. Um 5 Uhr morgens oder so stiegen die frisch gebackenen Brote zum Himmel, was gäb ich dafür, das noch einmal zu erleben. Wo sind die Bäcker im Niederdorf geblieben?

Froschaugasse 18 mit Hof
Nach dem Studium zog ich vorübergehend an die Edenstrasse und kam vor 25 Jahren zurück an die Froschaugasse 18, ein Gebäude des Konvents St. Verena. Ich soll im Zimmer der Äbtissin schlafen, so sagte man mir, ihr Bett befindet sich im Landesmuseum, auch ich habe manchmal Albträume.
Das Haus wurde 1965/67 entkernt und «renoviert», nach einer erneuten Renovation 2022/23 ist alles auf dem neusten Stand.
Als ich 1998 einzog, war der Hof in einem trostlosen Zustand. Alle Hunde des Niederdorfs erleichterten sich hier, was niemanden weiter störte. Ich wurde sie (fast) alle los. Es kommt auch heute noch vor, dass sich ein Liebling hier «versäubert», zur Rede gestellt wird mit einem charmant falschen Lächeln antwortet: «Äs isch doch nit so schlimm, gälled si.» Man konnte und kann so einigermassen sauber in die Wohnung gelangen, aber  so richtig schön war es hier noch nicht.
Das hat erst der Blumen-Jan fertiggebracht: Blumen im Hof, Blumen auf dem Dach vom ehemaligen Kino Frosch – Letztere infolge Renovation leider weg, dafür wird es richtig heiss. Der Hof – jetzt ein kleines Blumen-Paradies mit Gatter zum Schliessen (schützt vor «Free Peeing» und freier Liebe). Leider wird der Ort auch weiter hemmungslos zum «Littering» verwendet, wenn an der Ecke, in der Nacht (!), alte Ständerlampen und anderes Gerümpel deponiert wird: «Es chas jo no öpper bruuchä!»

Die Touristen
Die Froschaugasse ist wohl eine der wenigen noch ursprünglichen Gassen in Zürich, wie lange noch? Eine gewisse Weltläufigkeit machte sich schon in der Gasse bemerkbar. Früher von den meisten Touristen unbemerkt, im Sommer schön schattig, verirrten sich kaum Heilsuchende hierher.
Heute ziehen sie in Scharen durch die Gasse, orientieren sich im Handy, während sie nicht schauen, wo sie gehen. Sie wissen wirklich nicht, was sie tun: die einen suchen den Foxtrail unter den Blumen oder im Hauseingang, die anderen lassen sich mit Megaphon das Froschauer-Wurstessen (1522) erklären. Dabei solle es auch schon zu Elevationen gekommen sein. Gross ist jeweils das Glück, wenn die Leute erfahren, dass Lenin am Brunnen in der Gasse sich seinen sozialistischen Durst löschte.

Die Gasse im Laufe der Zeit
Die Gasse hat auch gelitten: zwei Antiquariate weg, der «Notenpunkt» weg, das Kino Frosch auch weg, ein Geschäft für Einrahmungen weg. Der Blick zu Massimo Biondi am Rinder-markt tröstet. Aber es wird «Gott sei Dank» in der Schreinerei weiter gehobelt, Bücher gebunden, Blechinstrumente und Schuhe repariert, Schildchen graviert, Tee, Comics (ehemals Pinkus), Schmuck, Kunst, Kram und Kleiderträume verkauft, im Musikerhaus geübt; auch Essen wird serviert und betrinken darf man sich auch.
Von der globalen Leere der Bahnhofstrasse ist in der Gasse noch nichts zu spüren, sie ist noch kein Totenhaus, was mich zum letzten Thema bringt: Sterben in Zürich, im Niederdorf, wann ist die beste Zeit dazu? Sicher nicht, wenn die vier Anlässe der Apokalypse durch die Gassen der Altstadt brausen, oder eben doch: «Sexaloiten» (Meienberg), Zürifäscht, Streetparade und Chnabeschiessä. Letzteres ist für die Altstadt harmlos, dornig ist wohl die maskuline Namensgebung, «sah ein Knab’ ein Röslein stehn», hier müsste sich die Stadtregierung einmal roden, nachdem sie im Niederdorf allerorts schwarze Häusernamen ortet – der «Barfüsser» ist ihr wohl deswegen davongelaufen. Die Streetparade hat sich akustisch, wenn auch nicht abfallmässig verbessert, dem Sächsilüüte ist blech-musikalisch allenfalls noch etwas abzugewinnen, wenn ich mich auch jeweils frage, wie das beengende Zunftwesen mit den atlantischen Uferbänkern, den Weidelis, Wohlwends und den anderen Kerbhölzigen vom «Saumärt» (Paradeplatz) zusammengeht: Gottfried Keller, der Hellsichtige aus dem Niederdorf, hat in seinem Roman Martin Salander bereits 1886 die heutigen Zustände charakterisiert.

Während des Zürifäschts
Dann bleibt noch die Krönung, die Spitze, das Manna vom Himmel für die Wüstennot, das Zürifäscht (das Dörflifäscht gehört auch dazu), der Höhepunkt, der akustische Orgasmus, der sich im Niederdorf unter anderem auf dem Zähringer- und Predigerplatz mit rund 120 Dezibel über ein Wochenende austobt («mega»).
Da darf man nicht krank werden, da muss man weg oder sterben («Zum Verrecke!» – «Muäsch ja nit da wohnä, gäll!»).
Was denken sich die Stadtoberen jeweils bei einer Bewilligung über die Belastung für die Anwohnerschaft der beiden Plätze? – Nichts.
Es wäre noch viel zu sagen zur Froschaugasse, aber Flucht vor dem Lärm in die Stille: Robert Walser hat – glaube ich – kurz an der Froschaugasse 18 gewohnt. Manchmal, wenn es schneit und ich über die Beginenhäuser zur Uni hinaufschaue, fällt mir sein Gedicht über den Schnee ein.

Ueli Hubler

Unser Gastschreiber
Ueli Hubler (1952) ist in Balsthal (SO) aufgewachsen und absolvierte eine Lehre als Maschinenzeichner. Nach einem einjährigen Aufenthalt in London besuchte er in Zürich die Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene (KME). Ab 1976 Jus-Studium an der Uni Zürich mit Abschluss 1981 und Anwaltsprüfung 1986. Er arbeitete beim Kantonalen Steueramt, bei der AHV-Rekurskommission und beim Gemeindeamt des Kantons Zürich (Direktion Justiz und Inneres).
1976 zog er während des Studiums an den Seilergraben. Seit 25 Jahren wohnt er mit seiner Partnerin an der Froschaugasse. Er spielt Geige und macht bei einer Lesegruppe mit.

Foto: EM