Leben in der Altstadt

Unser Gastschreiber Peter Dudzik erinnert sich und erzählt von seiner Familiengeschichte und von der Altstadt links der Limmat, wo er aufgewachsen ist.
Ich bin im Haus meiner Familie Papsin-Perret-Dudzik zwischen Schipfe, Weinplatz und St. Peterhofstatt aufgewachsen. Urgrossvater Waldemar Papsin, Mützenmacher aus Laucha bei Leipzig, arbeitete erfolgreich in Zürich. Auf den Rat seiner Kollegen vom Turnverein erwarb er 1896 das Haus «Zum grossen Wolf», Strehlgasse 7. Sein Sohn Charlie wurde im Ersten Weltkrieg als Deutscher in Paris auf der Ile d’Yeu interniert. Kurz vor der Heimkehr starb er an der Spanischen Grippe. Erzieherin von Charlie und seiner Schwester Elsa war die greise Agathe Ortolf-Hügle, einst Gesellschaftsdame von Annette von Droste-Hülshoff auf Schloss Meersburg bis zu deren Tode 1848.
Um 1910 war Jämes Perret, später Direktor von Cortébert Watch Co., Praktikant in der Maschinenfabrik Oerlikon, um Deutsch zu lernen. Er stammte aus einer Uhrmacherfamilie im Jura. Jämes heiratete die hübsche Elsa, sie zogen ins Fabrikdorf im Val de St. Imier und kriegten die Kinder Marguerite und Jean. Elsa wurde psychisch krank. Nach ihrer Scheidung wuchsen Marguerite und Jean bei ihren Grosseltern in Zürich auf. Beide Hugenotten-Familien Papsin und Perret waren nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685 aus Frankreich ausgewandert.
Grossvater Josef Jan Dudzik kam aus dem armen Berggebiet um Zakopane im Freistaat Krakau als Schneiderlehrling nach Wien. Auf der Walz zum nächsten Meister in Paris blieb er in Zürich. In der Altstadt verliebte er sich, Sohn Otto Josef kam zur Welt und der Erste Weltkrieg brach aus. Josef Jan brachte es zum Schneidermeister mit Wohnung/Atelier an der Fraumünsterstrasse. Er kleidete Bundesrat Philipp Etter ein. Otto wollte Elektro-Ingenieur studieren, musste aber Schneider werden. 1945 heiratete er Marguerite Perret, übernahm das Haus, liess das undichte Dach ersetzen und eröffnete das Herrenmodegeschäft «Otto Dudzik Tailleur». 1948 gebar Marguerite meine Zwillingsschwestern Elsbeth und Verena.
Kindheit in der Altstadt
Um 1900 wohnten in der Altstadt 25 900 Personen auf engem Raum, oft in ungesunden Verhältnissen. Gut situierte Bürger waren in die Wachstums-Quartiere Enge und Zürichberg gezogen. Die Stadt Zürich erwarb die Häuser an der Schipfe zum Abbruch für das geplante monumentale Stadthaus. 1948 wollte mein Vater das kleinere Nachbarhaus für 30 000 Franken kaufen, Waldemar lehnte ab wegen zu teurer Renovation.
Bei uns rieselte der Kalk von den Wänden im Treppenhaus. Im Parterre stand das einzige WC, im 1. OG die Badewanne des Hauses. Ich trug Milchkrug, Kartoffeln und Äpfel aus dem dunklen feuchten Keller in den 3. Stock hinauf, auch die schweren Holzbürdeli zum Verfeuern im Kachelofen. Die Waschfrau heizte den kupfernen Waschkessel ein.
Familien mit Kindern wohnten in Sichtweite zueinander. Weshalb verfolgte mich die Meute im Kindergarten Schipfe? Im Schulhaus Schanzengraben war ich Primus in einer der Doppelklassen à je 36 SchülerInnen. Freund Michel Rey baute mit mir Baumhütten im Garten des Hotels Baur au Lac, bei Bruno Marx rösteten wir Knoblibrote an der Selnaustrasse, Lausbub Hansruedi Zollinger schlug mich, wie ihn sein Vater schlug; wir warfen Steine auf die offenen Mauerresten des Lindenhofkastells. Lehrerin Ella Kunz war gefürchtet für ihre Strenge. Soziale Kontrolle und Differenzierung waren ausgeprägt: zwischen Reformierten und Katholiken, Quartieren, Buben und Mädchen, Gymnasiasten und Lehrlingen, Zünftern und einfachen Leuten.
Und wieder Altstadt
Die Eltern entfremdeten sich, 1964 erfolgte die Scheidung. Wir Kinder zogen mit der Mutter in einen Wohnblock an der Überlandstrasse 343, wo der Verkehr durch Schwamendingen brauste. Ich fuhr mit dem Velo, später Töffli ans Wirtschaftsgymnasium Enge und wurde Präsident der Schülerorganisation. Mutter Marguerite brachte es bis zur Sekretärin des Adjunkten des Schulratspräsidenten der ETH.
1972 musste meine Freundin ihr Dachzimmer an der Toblerstrasse verlassen. Frei war nur eine Neubau-Einzimmerwohnung für 700 Franken an der Forchstrasse. Da rief mich mein Vater ins Haus, wo Schwester Elsbeth ausgezogen war. In der Rezession von 1974/75, als die Strehlgasse eine Baustelle für die Erneuerung der Leitungen war, liess er den Laden ausbauen, eine Gas-Zentralheizung einbauen und die Elektro-Installationen erneuern. Ins grössere Ladenlokal zog auch Hut-Baumann von Witwe Grit Waber-Abegg, Lebenspartnerin meines Vaters, der bei ihr im Haus in Küsnacht wohnte. Die Preise für Häuser in der Altstadt sanken um bis 25 Prozent. Für ein vergammeltes Haus an der Weiten Gasse musste gar ein Käufer gesucht werden.
Quartier im Wandel
1962 bewohnten 14 161 Personen die Altstadt, 2021 noch 5817 – im Trend war das Wohnen in den Aussenquartieren; in den Quartieren City und Lindenhof wichen viele Wohnungen für Büros. Der Autoverkehr verpestete die Luft und lärmte. Lastwagen und Cars blieben in der unteren Strehlgasse stecken. Weinplatz und Gemüsebrücke waren Parkplätze. Die Schulwege wurden gefährlich, das Limmatquai zur Durchgangsstrasse, welche die Quartiere trennte. Nach ihrem ersten Fondueabend im Folklore-Lokal «Kindli» streunten um Mitternacht Gruppen von beschwipsten AmerikanerInnen oder JapanerInnen laut debattierend durch die Strehlgasse und die Storchengasse zum Car am Münsterhof. Seit dem Ende dieser Touristenattraktion ist das Lindenhofquartier eine ruhige Wohnlage. Morgens herrscht Dorfatmosphäre, bevor der Passantenstrom dominiert. Abends sind die meisten Strassencafés geschlossen; der Ausgang geht hier in edle Restaurants. Selbst im populären «Bauschänzli» ist es ruhiger als im Niederdorf.
Einiges erreicht
Um Kontakte zu fördern und ein durchmischtes Quartier zu erhalten, gründeten Familien den Einwohnerverein Altstadt links der Limmat, 1975 wurde ich erster Präsident. Mit dem aktiven Vorstand (Martin Küper, Martin Peter, Peter Deuber) gelangen uns Erfolge: von 100 geforderten Bäumen im Quartier gegen die übermässige Sommerhitze wurden gepflanzt: die zwei Linden auf dem Weinplatz, die Allee an der St. Peterstrasse und eine Allee vor der Nationalbank (wieder entfernt!). Die Stadt Zürich wandelte in zweien ihrer Altstadthäuser an der Oetenbachgasse und an der Lindenhofstrasse Büros in Wohnungen um.
Die hoch gewonnene Augustinergasse-Abstimmung führte zur Renovation dieser Altstadthäuser mit Erhaltung ihres Inneren – und zur Stärkung der Denkmalpflege. Der Einwohnerverein gewann an Einfluss. Ich setzte mit Dr. Allemann (City-Vereinigung) den Umbau zum Hotel Widder durch, um die vernachlässigten Häuser zu erhalten. Die Bank Bär nahm die Ecke ihres geplanten Neubaus gegen den «Strohhof» etwas zurück, damit dessen Türmchen sichtbar blieb. Direktor Jaussy stöhnte ob meinem Vorschlag für eine Gartenwirtschaft des Hotels Storchen auf dem Weinplatz: «Dafür fehlt uns das Personal.» Meine Vision von attraktiven Limmatufern mit einem verkehrsfreien Limmatquai galt als Utopie.
Peter Dudzik
Unser Gastschreiber
Peter Dudzik (1946) ist an der Strehlgasse 7 in der Altstadt aufgewachsen. An der Kantonsschule Enge erlangte er 1966 die Handelsmatur und studierte Wirtschaftsgeschichte an der Uni, mit Abschluss 1971. Danach vier Jahre Assistenz, Dissertation 1981 (Druck 1986). Er unterrichtete 1973 bis 1982 als Lehrbeauftragter an der Kanti Enge, an der KME und an der Dolmetscherschule, war 1984 bis 1988 Leiter Schulung/PR der Maschinenfabrik Rieter und leitete bis 1994 die Schweizerische Reisefachschule Aarau. Anschliessend wirkte er als Berater Risikoanalysen für Swiss Re und war wissenschaftlich tätig.
Er ist Vater von vier Kindern und lebt mit seiner Partnerin in Thalwil. Er war 1975 bis 1980 der erste Präsident des Einwohnervereins Altstadt links der Limmat.
Foto: EM