Zwischen Enge und Nähe

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Unsere Gastschreiberin Elke Mittendorf erlebt das Leben in der Altstadt zwischen beengendem Trubel und erfreulichem Quartierleben.

Manchmal finde ich es hier einfach eng. Ich radle zum Beispiel die Rosengasse hinauf und biege nach rechts in die Niederdorfstrasse ab. Nicht wegen der Steigung muss ich stoppen, nein, es sind die Massen von Menschen, die mir den Weg versperren.
Es ist einfach eng hier. Also schiebe ich mein Rad zwischen den Restauranttischen hindurch, teile mir den schmalen Weg mit den Touristen und dem Team Capoeira und erreiche endlich die Haustür, nachdem ich mich durch diesen Hindernisparcours gekämpft habe.
Das Gefühl der Enge wird verstärkt, wenn die Hitze sich an die engen Gassen klammert und in die Häuser kriecht. Mein Limit ist dann erreicht, wenn sich am Wochenende die Menschen vor unserer Haustür so eng aneinander quetschen, dass ich nicht mal mein Fahrrad aus dem Hauseingang hinaus bugsieren kann. Als im Juni – nur zwei Häuser weiter – ein Dachstock brannte, wurde das Gefühl noch stärker: Es ist zu eng! Zum Glück schafften es die Feuerwehrwagen auch dieses Mal, sich rechtzeitig durch die engen Gassen und die Menschenmenge zu quetschen, aber es hat das Gefühl verstärkt. Wie so oft im Sommer, aber auch in der Adventszeit: Es ist mir zu eng. Ich will hier raus, weg aus der Stadt.

Viel Platz auf dem Dorf
In solchen Situationen denke ich an das Dörfchen im nordhessischen Nirgendwo, in dem ich aufgewachsen bin. Was Enge und Nähe angeht, war das genau das Gegenteil von dem Altstadtleben hier. Eine Kindheit mit Platz in Hülle und Fülle. Am Bahndamm neben den verwaisten Gleisen haben wir Buden gebaut, Verstecken gespielt und später Partys in alten Schuppen gefeiert. Das war eben das sogenannte Zonenrandgebiet, eine strukturschwache Region und deshalb irgendwie ein blinder Fleck auf der Landkarte. Keine Menschenseele interessierte sich dafür, und deshalb hatten wir Platz.
Ganz anders als hier im Gedränge des Niederdorfs. Wenn ich früher nach der Schule mit dem Rad von der Bahnstation zu mir nach Hause gefahren bin, konnte es passieren, dass ich weder Auto noch Fussgänger traf, einfach niemanden. Kein Gedränge, aber auch keine Nähe.
Einkaufen? Fehlanzeige. Ein Kaugummiautomat mit historischem Inhalt war so ziemlich der Einzige, der etwas feilbot. Der nächste Lebensmittelladen? Fünf Kilometer entfernt. Schule? Fünfzehn Kilometer. Theater, Konzerte, Kultur? Könnten genauso gut auf einem anderen Planeten gewesen sein. Öffentlicher Verkehr? Ja, schon, aber nur in homöopathischen Dosen. Für meine Eltern war die Organisation des täglichen Lebens und der Ausbildung ihrer Kinder eine logistische Herausforderung, die meiner Mutter die Berufstätigkeit verunmöglichte.

Nähe und Leichtigkeit
Ich träumte von einem Ort, an dem Arbeit, Bildung und die Hobbys der Kinder, ja sogar die Hobbys der Eltern, miteinander vereinbar wären, falls ich mal eine Familie haben würde. Eine Stadt mit einem lebendigen Quartierleben schien mir wie der Inbegriff von Leichtigkeit, wenn man sich ein spannendes Leben organisieren will.
So war es dann tatsächlich! Mittlerweile sind unsere beiden Sprösslinge (Tochter und Sohn) schon länger erwachsen, und ich kann es sagen: Die Altstadt von Zürich war die goldrichtige Wahl. Hier ist alles in Reichweite für ein leichtes Dasein. Der Kindergarten am Neumarkt war so nah, dass die Kleinen schon bald selbständig unterwegs waren. Die nahe Hirschengrabenschule unterstützte die Selbständigkeit und später: Gleich mehrere Gymnasien mit unterschiedlichen Profilen waren binnen zwanzig Minuten zu erreichen und ermöglichten gute Ausbildung vor der Haustür. Unser Sohn behauptete einmal, dass er für den Weg zur Kantonsschule Rämibühl nur fünf Minuten mit dem Rad brauche. Zweifel sind da zwar angebracht, aber die Grundaussage stimmt: es ist nah.
Und für die Eltern: Über den Stadelhofen oder den Hauptbahnhof waren mein Mann und ich im Nu am Arbeitsplatz. Und ich konnte mir neben Job und Familie sogar die Zeit für ein intensives Hobby leisten – Mitspielen im Altstadt-Orchester – denn die Probenorte Kulturhaus Helferei oder Lavaterhaus sind in nur zehn Minuten zu erreichen. Auch wegen Sport muss man nicht jammern: Joggen an der Limmat oder schwimmen im See morgens um halb sieben, ein Privileg! Und wenn es dann mal Langeweile gibt: Genug liebe Freunde und Bekannte wohnen in der Nähe, um spontan auf einen Kaffee zu gehen, einen Cocktail zu schlürfen oder sogar gemeinsam Kultur in Oper, Theater oder Konzerten zu geniessen.

Soziale Nähe und Kontrolle
Soweit die Vorteile der Nähe und Leichtigkeit des Stadtlebens. In einem Dorfleben gibt es zusätzlich noch die Ambivalenz von sozialer Nähe und Kontrolle: Hier wurde es mir trotz Platz auch in meinem nordhessischen Dorf zu eng.
Als Jugendliche war ich genervt, wenn die Nachbarin meiner Mutter und dem halben Dorf erzählte, wann ich nach Festen nach Hause kam und wer mich nach Hause brachte. Es war nicht böse gemeint und ich verstand ja auch die Vorteile dieser sozialen Kontrolle. Die Leute geben aufeinander acht.
Wir haben hier im Niederdorfleben viele Vorteile dieser sozialen Nähe des Aufeinander-Achtgebens. Obwohl – auch unsere Kinder waren wohl manchmal genervt, dass die Erwachsenen im Quartier in einem engen Austausch stehen.
Aber grundsätzlich hat diese «soziale Nähe» auch dazu beigetragen, dass sie ihre Kollegen aus der Hirschengrabenschulzeit auch mehr als zehn Jahre später immer noch hin und wieder sehen. Sie verabreden sich auf dem Pausi, am Frühlingsfest oder am Neumarktfest. Und das, obwohl sie schon längst nicht mehr im Quartier wohnen.
Wegen der Menschenmengen und städtischer Hektik finde ich es aber auch oft schwierig, die Nähe zu bewahren, die Nachbarschaft im Blick zu behalten. Tiefpunkte waren für mich hierbei die Verluste von «Institutionen der Nachbarschaft» wie dem «Läbis 1» und der Metzgerei Zgraggen.

Grossartige Nähe
Jetzt bin ich gerade aus den Ferien zurück. Vor zwei Wochen war das Gefühl der Enge noch dominant. Jetzt freue ich mich wieder auf die Nähe des Altstadtlebens. Neulich kam unsere Tochter an einem Wochenende zu Besuch, öffnete die Fenster zum Hirschenplatz und legte sich auf meinen Lieblingsplatz, die Hängematte in meinem Arbeitszimmer: «Ach wie schön, so tönt es einfach nach zu Hause.»
Genau, das mache ich jetzt auch, ich lege mich in die Hängematte und sauge die Altstadtgeräusche auf. Ich höre die fröhlich plappernden Menschen, Geschirr klirrt, im Innenhof beschwert sich ein Baby, irgendwo höre ich Kinder spielen. Und ich kann in den nächsten Tagen immer mal mit lieben Menschen hier einen Kaffee trinken, einen Cocktail schlürfen oder Kultur geniessen. Manchmal ist es zwar eng, meistens ist es aber einfach nur grossartig, die Nähe zu einem pulsierenden Leben zu spüren.

Elke Mittendorf

Unsere Gastschreiberin
Elke Mittendorf (1966) ist in Nordhessen aufgewachsen. Nach dem Gymnasium studierte sie in Marburg Mathematik, dazu ein Jahr in Kansas, USA, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. Anschliessend ab 1992 Dissertation an der ETH Zürich, mit Abschluss 1997. Danach verschiedene Anstellungen bei IT-Beratungsfirmen. Weiterbildungen in Change Management und Organisationsentwicklung. Heute ist sie beim Universitätsspital Zürich tätig als Data Governance Managerin.
1992 zog sie mit ihrem Mann Andrea Clivio an die Niederdorfstrasse; sie haben eine Tochter und einen Sohn. Beim Altstadt-Orchester spielt sie seit 1993 Geige und Bratsche und war die letzten acht Jahre dessen Präsidentin. 2006 bis 2014 Kirchenpflege Predigern, seit 2017 ist sie in der Kommission des Kirchenkreises eins Altstadt.

Foto: EM