Unterschiedliche Welten

Unsere Gastschreiberin Nadine Wenzinger lebt in der Zürcher Altstadt. Sie hat sich verpflichtet für einen dreijährigen Einsatz in Kenia. Gegenwärtig, etwa zur Halbzeit, weilt sie gerade in Zürich. Sie schildert ihre Eindrücke und Lebensumstände.
In der Altstadt wohne ich nicht nur, ich lebe in der Altstadt. Das Lebensgefühl, der Fluss, die Schönheit der Gebäude und die internationale Besucherschar an der Schipfe… – Es ist wunderbar, hier zu Hause zu sein. Wenn wir als Kinder vom Quartier Unterstrass, wo ich aufwuchs, in die «City» gingen, habe ich dazumal schon sehnsüchtig auf das Haus mit dem Turm an der Schipfe geblickt und mir gewünscht, dort zu wohnen. 25 Jahre später ging der Wunsch nahezu in Erfüllung, wir erhielten auf dem offiziellen Weg eine der begehrten Stadtwohnungen an der Schipfe, im Haus neben dem Turm. Ich fühlte mich dazumal, als hätte ich im Lotto gewonnen. Wenn auch die Räume hinter der glänzenden Postkartenfassade klein und niedrig sind, fühlen wir uns weiterhin sehr wohl hier.
Neben diesem Wunsch schlummerte in mir seit früher Kindheit die Sehnsucht, in Ländern fern der Schweiz meinen Lebensmittelpunkt zu haben. Somit habe ich nach acht wunderbaren Jahren mit meinem Sohn an der Schipfe beschlossen, das Nest für drei Jahre zu verlassen.
Einsatz im fernen Kenia
Ermöglicht wurde mir die Erfüllung dieses Wunsches durch die Schweizer Nichtregierungsorganisation Comundo, welche in der personellen Entwicklungszusammenarbeit tätig ist. Comundo vermittelt, organisiert und finanziert den Einsatz mit einem Fokus auf die Nachhaltigkeit. Ich arbeite in Kenia für die Kenya School for Integrated Medicine (KSIM) in der Organisationsentwicklung. KSIM bildet junge Menschen zu Gesundheitsfachpersonen aus, mit einem Fokus auf Community Health. Noch bedeutender als der neue Lebensmittelpunkt in einem fernen Land ist für mich, dass ich mit meiner Arbeit gemeinsam mit dem Team eine positive Wirkung erziele. Wir eröffnen jungen Menschen Zukunftschancen durch eine Berufsbildung im Gesundheitsbereich.
Bereichernd ist auch, dass genährt von der Verschiedenartigkeit unserer Lebenswelten und durch unseren Austausch auf Augenhöhe neues Wissen entstehen kann.
Dieses Wissen kann in kleinen Schritten dazu beitragen, neue Lösungswege für eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und eine Chancengleichheit zu entwickeln, was ich für die Zukunft unseres Planeten und dem Miteinander der Menschen als essenziell ansehe.
Vom Alltag
Mein Herz schlägt seit meinem temporären Wegzug für zwei Orte: für Golini an der Südküste Kenias und für die geliebte Zürcher Altstadt. Am einen begegne ich viel unbekanntem Neuem, am anderen geniesse ich das Bekannte, welches immer wieder mit Überraschungen gewürzt ist, verbunden mit Erinnerungen. Die Altstadt ist Komfortzone und Kenia ist eine Entdecker- und Lernzone.
Was sind Parallelen zwischen diesen zwei Welten und was ist komplett anders? Ähnlich ist das Dörfliche, an beiden Orten bin ich zu Fuss auf nicht geteerten Gassen unterwegs und habe Zeit für einen kurzen Austausch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Der Unterschied ist, dass die Altstadt ein Dorf in der Stadt ist und Golini, wo ich in Kenia wohne, ist ein Dorf ohne Stadt, umgeben von Mango-, Cashewnuss-Bäumen und Palmen.
Das Begrüssungsritual hier wie dort hat den gleichen Inhalt. Doch die Sprache wechselt zu Swahili: «Mambo», gefolgt von einem «Habari» mit der Antwort «Mizuri», übersetzt: Hallo – wie geht es dir – mir geht es gut. Der samstägliche Gang auf den Markt gehört auch in Kenia zu meinem Alltag, doch sind es keine geordneten Marktstände wie auf der Gemüsebrücke. Die Auslagen sind auf dem Boden oder auf selbstgezimmerten Holzständen ausgelegt. Ich koche gerne und experimentiere mit Freude mit neuen Zutaten, habe auch in Zürich immer nach neuen oder wiederentdeckten Gemüsesorten Ausschau gehalten. Auf dem Markt in Golini mache ich viele Entdeckungen, insbesondere bei zwei älteren Marktfrauen, die selbstgesammeltes und gepflanztes Gemüse anbieten. Mein Lieblingsgemüse ist eine Wildpflanze namens Kuunde, ich kenne leider nur den Digo-Name. Digo ist die Muttersprache der meisten Leute in Golini. Kuunde sieht ein wenig wie ein überdimensionierter Löwenzahn aus und enthält auch Bitterstoffe. An beiden Märkten gibt es eine Marktaufsicht, die Öffnungszeiten sind in Kenia flexibler und oft vom Wetter und dem Tageslicht bestimmt, doch abgesehen von den Zeiten ist die Aufsicht hier wie dort streng und genau.
Das Licht in Kenia ist anders, intensiv und es bringt die Farben stark und die Konturen der Umgebung scharf hervor. Es fehlen so nahe vom Äquator jedoch die langen lauen Sommerabende, wo sich die Menschen noch lange auf der Gasse treffen. In meiner Zweitheimat bin ich spätestens um sieben zu Hause, da es um halb sieben eindunkelt, egal ob Juni oder September.
Lärmimmissionen sind bei mir an der Schipfe eine stetige Thematik, interessanterweise fühle ich mich in Kenia eher gestört als an der Schipfe. Da merke ich wieder, wie stark eine empfundene Einschränkung durch seine eigenen Interessen beeinflusst wird. Da ich selbst gerne einen Wein draussen an der Schipfe geniesse, stören mich die manchmal lauten Menschen an der Schipfe mit Musik und Alkohol nicht. – Die Freikirche neben mir in Kenia, welche sehr oft und sehr laute Gottesdienste abhält, lässt mich hingegen an die Grenzen meiner Geduld kommen, da ich selbst keine Gottesdienste besuche.
Vom Wert des Wassers
Der wohl frappanteste Unterschied ist die Wasserversorgung. Wo in der Altstadt an manchen Brunnen Quellwasser von so hoher Qualität sprudelt, dass es in Flaschen abgefüllt verkauft wird, gibt es in Golini keine Brunnen, sondern Wasserlöcher und das Wasser muss abgekocht oder gefiltert werden, bevor es getrunken werden kann. Auf meinem Abendspaziergang begegne ich keinen Apéro trinkenden Menschen bei einem Brunnen, wie
an der Stüssihofstatt oder auf dem Predigerplatz, sondern Frauen und Kindern, die Wasser in Kanister füllen, weil sie zu Hause keinen Wasseranschluss haben. Doch ob Brunnen oder Wasserloch, an beiden Wasserspendern treffen sich die Menschen aus dem Umkreis und reden und lachen miteinander. Wasser entfaltet seine anregende und energetische Wirkung auf der ganzen Welt.
Ich selber geniesse es, das Wasser direkt vom Brunnen trinken zu können, in vollen Zügen bis anfangs November, wenn ich meine Koffer wieder packe und nach Golini zurückkehre. Vielleicht treffe ich die einen oder anderen Altstadt-Kurier-Lesenden an einem Brunnen oder auf der Gasse für einen Austausch über die verschiedenen Welten auf unserem Planeten.
Nadine Wenzinger
Unsere Gastschreiberin
Nadine Wenzinger (1976) ist in Zürich aufgewachsen, wo sie eine Detailhandelslehre absolvierte. Sie holte die Berufsmatur nach und studierte berufsbegleitend an der Fachhochschule Olten Angewandte Psychologie, mit Bachelor-Abschluss 2015. Sie war im Bereich Digital Marketing tätig und liess ein zweijähriges Masterstudium in Business Administration an der ZHAW folgen.
2022 startete sie einen dreijährigen Arbeitseinsatz über die Nonprofit-Organisation Comundo bei der Kenya School for Integrated Medicine, im Bereich Organisationsentwicklung und Marketing. – Die Mutter eines erwachsenen Sohnes wohnt seit 2014 an der Schipfe. Sie engagiert sich als Mietschlichterin beim Mieterverband. Und sie reist gern.
Foto: EM