Marthe Kauer (1911 - 2004)

Die von ihr organisierten Dichterlesungen in der «Katakombe» wurden legendär. Eine bemerkenswerte Buchhändlerin hat uns verlassen.

Marthe Kauer lebte seit den Dreissigerjahren in der Altstadt, zuerst links und dann rechts der Limmat. Bis nach ihrer Pensionierung war sie am Weinplatz 4, im Haus zum kleinen Chistoffel, zu Hause, einem Haus mit ganz speziellem Charme und Atmosphäre, mit viel Musik und Kinderlachen. Einige Jahre wohnte sie dann im Wettingerhaus am Grossmünsterplatz. Die letzten Jahre verbrachte sie im «Karl der Grosse» an der Oberdorfstrasse und die letzten Monate im Pfrundhaus, wo sie viele alte Bekannte wieder traf und eine gute und liebevolle Betreuung und Pflege genoss.

Marthe war eine initiative Persönlichkeit. Der jungen Buchhändlerin wurde die Leitung der Genossenschafts-Buchhandlung am Helvetiaplatz übertragen, als diese tief in den roten Zahlen steckte.

Mit Initiative, Leidenschaft und bahnbrechenden Ideen hat sie die Buchhandlung wieder auf Kurs gebracht. Sie hat ein Monatsbulletin für Neuerscheinungen eingeführt und eine Kinder- und Jugendbuchabteilung aufgebaut, lange bevor sich andere Zürcher Buchhandlungen dieser Literatur annahmen.

Im Herbst 1940, während der Zweite Weltkrieg tobte – in einem Klima zwischen Anpassung und Widerstand – eröffnete Marthe Kauer die erste Dichterlesung in der «Katakombe», dem Keller der Buchhandlung, mit Albin Zollinger. Damals waren Literaturveranstaltungen in Buchhandlungen etwas Neues. Marthe Kauer gab den Schweizer Autoren so ein neues Forum. Hier schlug die Stunde der Literaturvermittlerin, die junge Schweizer Autoren sowie Emigranten in ihre Katakombe lud. Es lasen unter anderen Albert Ehrismann, Paul Adolf Brenner, Hans Schumacher, Kurt Guggenheim, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Hugo Loetscher (1964 las er aus «Die Kranzflechterin») sowie Flüchtlinge wie Bert Brecht, Walter Mehring, Mascha Kaléko, Ignazio Silone usw. Auch Werner Bergengruen war unter ihnen. Die Buchhandlung wurde ein Stück von ihr. Für Marthe Kauer standen die menschlichen Kontakte mit Lesern, Autoren und Künstlern im Vordergrund. Dadurch sind viele Freundschaften entstanden. Auch im Quartier hat sie zu vielen Menschen Freundschaften gepflegt. Im Pressecafé hat sie gerne mit Hugo Loetscher, Gisela Treichler und anderen Altstadtbewohnern anregende Gespräche geführt. Sie war eine Frau der Freundschaften und war glücklich darüber, dass sie bis zuletzt von lieben Freunden und Freundinnen begleitet wurde.

Auch nach der Pensionierung hat sie ihre Hände nicht in den Schoss gelegt. Zuerst hat sie grosse Reisen unternommen und dann aber neue Aufgaben angepackt. Sie war noch rund zehn Jahre Geschäftsleiterin der Guten Schriften, hat die Bibliothek des Balgrist modernisiert und ihre Erinnerungen an die Dichterlesungen erzählend in «Die Katakombe» (Pendo-Verlag, 1991) festgehalten.

Mit siebzig Jahren hat Marthe ihren Lebenspartner Fred im Pressecafé kennen gelernt. Zusammen haben sie noch fast zwanzig schöne und erfüllte Jahre verbracht. Fred hat sie zum Malen angeregt, zu einer ihrer späten Leidenschaften, die sie bis in die letzten Tage im Pfrundhaus begleitete.

Margrit Tappolet