Lenin und sein Joghurt
Eigentlich ging es an diesem Abend ja um Verdejo, Albillo, Tempranillo… Wir degustierten, genossen. Aber unser Ehrengast Bruno Kammerer, seit kurzem 87, Grafiker und leidenschaftlicher SP-Politiker, ist nicht nur ein Experte für spanische Weine und Stierkämpfe, sondern auch ein Kenner der Geschichte des alten (und des neueren) Zürich. Bei seinem Grossonkel, dem Schuhmacher Titus Kammerer, hatten Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) und seine Frau Nadeshda Krupskaja vom Februar 1916 bis April 1917 zur Untermiete gewohnt: an der Spiegelgasse 14, in zwei Zimmern, für 24 Franken im Monat.
Dank Bruno Kammerer weiss Regula nun endlich, dass die Lenins nicht nur Schweizer Schokolade mochten, sie assen auch gern Kefir und Joghurt. Diese im Kaukasus erfundenen Milchprodukte lieferte ihnen Pavel Axelrod, ein anderer Revolutionär, der 1886 mit seiner Frau, die auch Nadeshda hiess, an der Mühlegasse 33, gegenüber der Zentralbibliothek, eine «Kephir-Anstalt» gegründet hatte. Heute ist dort ein Kopiergeschäft. In der ZB hatte Lenin häufig gearbeitet, an seinem Werk «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus».
Der «Nebelspalter» verkündete damals hochaktuell: «Freu’ dich, mein Vaterland!/ Nimm den Pokal zur Hand,/ Nippe Kephir!/ Heil dir, Helvetia, /Fülle die pocula,/ Die man in Fluntera/ Weihet alldir!/ Fort mit dem Rebensaft,/ Der keine Wärme schafft,/ Fort mit dem Bier!/ Most und Schnaps, alle Beid’/ Haben zu wenig Schneid,/ Ärgern die Eingeweid’,/ Trinket Kephir!»
Die erste Molkerei in Zürich hatte Dr. Niklaus Gerber (1850-1914) eröffnet, auf einer historischen Fotografie kurvt um 1910 einer seiner Lieferwagen mit «täglich controllierter Vollmilch» über den Paradeplatz. Gerber war später auch an Axelrods Kephiranstalt beteiligt. Sie wurde 1910 liquidiert.
Wir lernen: Hundertfach geschilderte Weltrevolutionen und bis zum Abwinken beschriebene Revolutionäre sind das eine; das andere, das Interessante sind die kleinen zivilisatorischen Begleiterscheinungen. Wie hat doch der grosse Brecht gefragt: «Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei?» Lenin ist im plombierten Zug seiner Revolution nach Russland entgegengefahren. Aber wie haben sie es damals mit der Bordverpflegung gelöst? Fritz Platten, der Zürcher Gefährte Lenins, kam nach dem Generalstreik ins Gefängnis, weil er seinem Freund zur Abreise verholfen hatte und immer wieder in die Sowjetunion reiste. 1942 erhielt er den Dank des Vaterlandes der Werktätigen durch die stalinistische Gewaltherrschaft: Er wurde im Arbeitslager erschossen.
Was hätte Platten in den vielen Jahren seiner Lagerhaft wohl für ein frisches Joghurt gegeben?
Herzlich, ganz unpolitisch
Regula