Das Niederdorf, mein Zuhause

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Unsere Gastschreiberin Marisa Geretto ist in der Agglomeration aufgewachsen. Und ist als Erwachsene mitten im Niederdorf gelandet, wo sie ihr neues Zuhause gefunden hat.

Schon als Kind war der Sonntagsspaziergang in der grossen Stadt vom HB der Limmat entlang bis zum Hotel Eden au Lac das Highlight des Sommers. Unsere Mutter liebte es, ihre ehemaligen Kochkollegen zu besuchen und wir Kinder bekamen dann immer ein extra Eis. Aufgewachsen bin ich in einem damals richtigen Dorf. Pferdefuhrwerk, Schweinestall und Milchwirtschaft in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Spielwiese war der Obsthang des Nachbarn, die grosse Welt fanden wir im nahe gelegenen Wald. Erziehung war selbstverständlich öffentliches Anliegen. Den wachsamen Augen der Nachbarschaftsmütter entging nichts und das Buschtelefon funktionierte effektiver als die heutigen Socialmedia.
Unser Vater war bei der Zürcher Wasserversorgung angestellt und für die Instandhaltung zahlreicher Brunnen zuständig, unter anderem auch für den Manessebrunnen (Rösslibrunnen) und den Brunnen auf dem Leueplätzli. Er erzählte uns abends oft von seiner Arbeit, die er mit viel Liebe und Hingabe ausführte. Die Menschen mit sauberem Wasser zu versorgen erfüllte ihn mit Stolz.
Als selbständige Bürofachfrau durfte ich für viele Klienten Übersetzungen, Korrespondenz und Buchhaltung führen.
Das ständige Umherreisen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln raubte mir aber zu viel Zeit. Ich zog 1987 in die Stadt. Wichtig war mir, innert 15 Minuten Fussweg den Hauptbahnhof erreichen zu können.
Ich fand an der Flohrhofgasse ein 15-Quadratmeter-Apartment. Meine Gäste bewirtete ich mit Picknick im Rechberg-Garten und meine Lesestube fand ich auf dem damaligen Rehplätzli (heute Susanna Gossweiler gewidmet). Meist ging ich früh ausser Haus und fand erst spät wieder zurück. Ich genoss es, den aufmerksamen Augen der Nachbarsmütter entronnen zu sein und freute mich der gewonnenen Entwicklungsfreiheit. Die ehrwürdigen Häuser, die aufgestellten Studenten von Konservatorium, Kantonsschule und Universität belebten meinen Heimweg auf eine angenehm anregende Art.

Mitten im Niederdorf
Nach fünf Jahren fand ich endlich eine grössere Wohnung an der Schmidgasse. Herzhaft lachen muss ich heute noch über meine damaligen Berührungsängste. An der Schmidgasse 6 waren drei Damen aus dem Gewerbe mit beleuchteten Fenstern eingemietet. Eine der Damen stand jeweils beim Zigarettenautomaten meiner Haustüre gegenüber und wartete auf Kundschaft. Sie lächelte immer freundlich, wenn ich in die Gasse einbog, um an meine Haustüre zu gelangen. Ich hingegen senkte immer gleich den Blick, um jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Eines Abends aber musste ich mir am Automaten Zigaretten holen. Ich war also gezwungen, die Dame anzuschauen und mich neben sie zu stellen, um mir meine Zigaretten zu ziehen. Sie grüsste mich freundlich. Ihren Gruss erwiderte ich mit hochrotem Kopf und eher widerwillig. Sie stellte sich mit Namen vor und wollte wissen, womit sie meine abweisende Art verdient hätte. Ziemlich verwirrt gab ich zur Antwort, ich würde mit Sicherheit nicht zu ihrer Kundschaft zählen wollen. – Ihr schallendes Lachen klingt heute noch in meinen Ohren. Sie klärte mich nett auf, dass ihre Dienste auch eher auf Herren ausgerichtet seien. Grüssen könne man sich doch aber als Nachbarn trotzdem? Beschämt, aber erleichtert konnte ich dann in ihr Lachen einstimmen. Wir haben einige amüsante Plauderstündchen miteinander verbracht.
Genauso gerne erinnere ich mich an den ältesten privaten Frisörsalon, den ich jemals betreten habe. An der Schmidgasse 4 über dem exklusiven Stoffladen in der ersten Etage, hatte Fräulein Häfliger (sie bestand auf diese Anrede) 1946 ihre Lehre als Frisöse begonnen und das Geschäft dann übernommen. Die Einrichtung war noch wie anno dazumal, mit viel Liebe gepflegt und poliert. Die 80-jährige Dame hatte noch immer eine treue Kundin aus alten Zeiten, erzählte sie mir. Sie selbst wohnte mit ihrem Hund eine Etage weiter oben. Eindrücklich fand ich ihre zuverlässigen Gewohnheiten. Man konnte beinahe die Uhr nach ihr stellen. Morgens Spaziergang mit dem Hund, danach Lektüre der Tageszeitungen in ihrem Lese-Erker mit Blick in den Hinterhof. Um 11 Uhr Studie der Gasse vom Fenster aus, nachmittags nochmals Spaziergang mit dem Hund, ein Gläschen Weisswein in der Gartenwirtschaft der Gasse und danach Rückzug zum Abendbrot und Nachtlektüre.

Entwicklungen
Im Jahr 2000 zog ich in an die Marktgasse. Morgens ein frisches Brot vom Bäcker Bertschi, beim Käseladen daneben frische Butter und von Zgraggen die Wurst aufs Brot, was will das Geniesserherz mehr. Zugegeben, der Fischgeruch von Bianchi war morgens nicht sonderlich, aber seine Auswahl an Delikatessen zum Einkaufen einfach das Paradies. – Radio und Fernseher brauchte man nicht. Für die tägliche Unterhaltung sorgten dazumal das «Pigalle», das «T&M» und das «Zic Zac». Ihre Gäste liessen uns Nachbarn an dramatischen Liebesgeschichten ebenso teilhaben wie an laut ausgelebter Lebensfreude.
Vieles scheint mir heute anders, manche sagen, das ist der Gang der Dinge, der Wandel des Blickwinkels. Ich sage, mir scheint es immer steriler. Wer weiss?
Als abschreckendes Beispiel für die Entwicklung einer faszinierenden Stadt möchte ich Venedig aufführen. Tourismus- und Prestigeüberlegungen ruinieren sowohl das historische Kulturerbe wie auch den Charme einer lebendigen Stadt. Einheimische finden keinen bezahlbaren Wohnraum, ihr Lebensraum ist von Touristen überfüllt und sie ziehen weg. Übrig bleiben ausländische Geschäftemacher und Airbnb. Kultur und Leben entschwindet.
Schön, gibt es in unserer Altstadt noch so viel Gegenbewegung und engagierte Altstadtbewohner!

Marisa Geretto


Unsere Gastschreiberin
Marisa Geretto (1960) ist in Opfikon aufgewachsen und hat eine zweijährige Handelsschule absolviert, mit einem Jahr Praktikum in einem Hotel. Danach arbeitete sie eine Saison in einem Hotel in Davos, war drei Monate in England und arbeitete temporär bis 1986. Dann machte sie sich als Bürofachfrau selbständig. Ab 1997 war sie in verschiedenen Funktionen tätig bei einer Textilhandelsfirma, bis zu deren Auflösung Mitte 2022. Neu wirkt sie tageweise als Babysitterin.
Sie zog 1987 in die Zürcher Altstadt, wo sie bis heute lebt, seit einigen Jahren mit ihrem Partner.

Foto: EM