Das Universum im Dörfli

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Unser Gastschreiber Robin Poëll pflegt eine seltene Freizeitbeschäftigung: Er ist Hobbyastronom. Und er verrät, wie das in der dicht besiedelten Altstadt trotz Lichtverschmutzung funktioniert.

Unglaublich, aber wahr: Meine Faszination für die Sterne habe ich just im wahrscheinlich hellsten Quartier der wahrscheinlich hellsten Stadt der Schweiz wiederentdeckt: Unserem Dörfli, genauer im Oberdorf. Ganz genau an der Trittligasse.

First Light
Der Blick in den Nachthimmel hat mich schon immer fasziniert. Sei es beim Biwakieren mit den Pfadis oder später bei etwas freiwilligeren Übernachtungen mit Freunden in den Bergen. Deshalb war meine Freude natürlich gross, als ich vor bald 30 Jahren durch mein erstes Teleskop blicken durfte. «First Light» nennt man den magischen Moment unter Teleskopbesitzenden. Es war ein kleines Linsenteleskop für Einsteiger, ein sogenannter Refraktor. Unglaublich, was selbst in einem kleinen Teleskop sichtbar war. Die raue Kraterlandschaft unseres Mondes, die Ringe des Planeten Saturn oder der mystische Gas-Schleier des Orion-Nebels – all das offenbarte sich mir jetzt einfach von unserem Garten aus.
Dieser Garten lag in Zumikon und bot fast uneingeschränkte Sicht auf die Sterne. Und weil der Himmel auf dem Pfannenstiel so schön dunkel und meine Verpflichtungen an einer Hand abzählbar waren, kriegte man mich bei klarem Nachthimmel so schnell vom Teleskop nicht mehr weg. Und so wurde aus dem Linsenteleskop für Einsteiger später ein grösseres Spiegelteleskop, ein sogenannter Reflektor. Das Teleskop musste den (nicht ganz fairen) Vergleich mit der historischen Sternwarte Urania nicht scheuen. Es war zwar nicht ganz so lichtstark, mit seinen 14 Kilo dafür fast tausend mal transportabler als das zwölf Tonnen schwere Schmuckstück im Dachstock der 1907 eröffneten Volkssternwarte. Damals wusste ich natürlich noch nicht, dass ich mein Teleskop einmal auf Augenhöhe mit der Urania aufstellen werde.
Dann mussten die Sterne für eine Weile irdischen Themen weichen. Ich zog meine Bahnen erst einmal langsam um das Studium in Winterthur und St. Gallen und schwenkte später in die Berufslaufbahn. Natürlich entdeckte ich daneben auch andere Hobbies und Interessen. Das Teleskop blieb zwar mein stetiger Trabant, war aber bald auch von einer ähnlich hohen Staubschicht bedeckt wie unser Mond.

Zu viel Licht, dafür gute Musik
Nach dem Umzug in die Stadt war es um die Hobbyastronomie leider noch schlechter bestellt. Meinen Start ins Stadtleben an der Stüssihofstatt empfand ich sonst aber als grosses Privileg. Ich kannte das Dörfli natürlich schon vom Ausgehen in jüngeren Jahren. Bei meinem Zuzug im Jahr 2009 war es als Ausgehquartier zwar nicht mehr der letzte Schrei. Zeitgleich mit meinem Zuzug eröffnete aber vor unserer Haustür das «Henrici». Die zahlreichen Konzerte junger Künstler, die bald auch auf grösseren Bühnen tourten, habe ich in bester Erinnerung. Nun wohnten mein Bruder und ich hier aber nur zur Zwischenmiete und so kam es, dass ich drei Jahre später, nach einem Schlenker übers Seefeld, an die etwas lebhaftere Marktgasse zog.
Ich hatte das Glück, vom obersten Stock einer nur sanft renovierten und somit äusserst zahlbaren Maisonette jeden Morgen das Grossmünster vor dem Alpenpanorama zu geniessen. In den ersten Jahren spürte ich in der Wohnung auch unter der Woche noch die Bässe aus dem nahegelegenen Club «T&M». 2014 musste dieser seine Türen schliessen und einer internationalen Modekette weichen. Der Fluch der «Fluchgasse» war zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon lange verflogen. Die duftende Feinkost – sei es Käse oder Fischwaren – war schon länger aus der Gasse verschwunden, womit das Quartier auch olfaktorisch beruhigt war. Und während also die Bässe langsam verstummten und die Gerüche verdufteten, breitete sich etwas anderes stetig aus: Kunstlicht.
Würde die künstliche Lichtverschmutzung unseres Nachthimmels auf einer Skala gemessen – und sie wird es – läge die hell erleuchtete Zürcher Altstadt ganz oben. Unser Dörfli fällt in die Klasse 9 auf der sogenannten Bortle-Skala, die den Grad der Lichtverschmutzung an einem bestimmten Ort beschreibt. Eine höhere Klasse gibt es nicht.
Das Problem betrifft natürlich nicht nur das Dörfli oder Zürich. Untersuchungen zeigen, dass der Nachthimmel im weltweiten Durchschnitt jedes Jahr um 9,6 Prozent heller wird. Wir verlieren also zunehmend den Blick in die Sterne und damit in unsere Vergangenheit – von gesundheitlichen Folgen für Menschen und Tiere ganz zu schweigen. Aber das ist eine andere Geschichte.
In die Quere kamen mir nicht nur die zahlreichen Verlockungen des neuen Stadtlebens oder die zunehmende Lichtverschmutzung. Es war vor allem der fehlende Aussenbereich, der ja auch noch einen guten Blick in den Himmel bieten sollte.

Sternegucken 4.0
Und dann passierten, fast gleichzeitig, zwei Dinge. Zuerst entschied ich mich schweren Herzens, mein verstaubtes Teleskop zu verkaufen. Es war ironischerweise dieser Entscheid, der mich zur Astronomie zurückbrachte. Vor wenigen Jahren hätte man noch für verrückt erklärt, wer von der Innenstadt aus ernsthaft dem Himmel seine Geheimnisse entlocken wollte. Aber seit meiner Hobbyaufgabe hatte sich in der Technologie eben einiges getan, wie ich bald feststelle!
Was unseren Augen beim Blick durch das Teleskop bis anhin verborgen blieb, machten nun hochempfindliche Digitalkameras innerhalb von Sekunden sichtbar. Das störende Kunst-, aber auch das Mondlicht, schlucken Präzisionsfilter. Das Problem der Lichtverschmutzung konnten Hobbyastronomen nun also technisch umgehen. Und als wäre das nicht genug, sitzt heute auf modernen Teleskopen meistens ein kleiner Computer. Der sagt einem, was es am Himmel gerade zu sehen gibt und fährt das Teleskop mit einem Swipe auf dem Handy an die gewünschte Stelle – natürlich «wireless». Geht da vor lauter Technologie nicht etwas die Magie verloren? Das kann man schon einwenden. Aber es ist wahrscheinlich magischer als gar nichts zu sehen, weil man die Objekte am Stadthimmel gar nicht erst findet.
Kurz nach dem Verkauf stand also ein kleineres, dafür voll automatisiertes Teleskop im Dachstock an der Marktgasse und war schön anzusehen. Nur anzusehen gab es damit ausser den Dachbalken nichts. Es musste also eine Terrasse her, womit wir zur zweiten glücklichen Fügung kommen. Nur zwei Monate nach dem Verkauf meines Teleskops kamen meine Freundin und ich unverhofft zu einer Wohnungsbesichtigung an der Trittligasse. Und da war sie nun. Die Dachterrasse mit 360 Grad Rundumsicht, hoch über den sagenumwobenen Altstadtgärten. Da hatte ich den Vertrag im Kopf schon unterschrieben.

Dr Himmel vo Züri
Und weil auch meine Partnerin die Aussicht gar nicht so schlecht fand, leben wir nun schon bald zwei Jahre an der Trittligasse. Noch immer empfinden wir es als fast unwirkliches Privileg, in der Altstadt zu leben. Im Dörfli mit seinen unzähligen krummen Gässchen, wo kein Haus dem anderen gleicht und hinter jeder Ecke eine Geschichte steckt. Dass es einmal die Trittligasse sein wird, hätten wir uns nie träumen lassen.
Auch wenn der Himmel hier etwas gar hell ist: Ein schöneres Quartier gibt es für uns nicht. Und jedes Mal, wenn ich jetzt mein Teleskop zum Himmel richte, singt leise in meinem Hinterkopf Zarli Carigiet «Miis Dach isch dr Himmel vo Züri» – und ich schmunzle.

Robin Poëll


Unser Gastschreiber
Robin Poëll (1982) ist in Zumikon aufgewachsen und erlangte in Zürich die Berufsmatur. Anschliessend machte er das Diplom in Journalismus und Organisationskommunikation an der ZHAW und etwas später den Bachelor in internationalen Beziehungen an der Universität St. Gallen. Er arbeitete drei Jahre bei einem Start-up im Bereich erneuerbarer Energie und Energieeffizienz, wovon zwei Jahre in Frankfurt. Seit 2018 ist er beim Bundesamt für Umwelt als Informationsbeauftragter zuständig für Medienarbeit. – Von Jugend an ist Astronomie sein grosses Hobby. Er engagiert sich bei der Nachbarschaftshilfe und ist gern in den Bergen, auf Skitouren oder mit dem Mountainbike. 2009 zog er in die Zürcher Altstadt, wo er mit seiner Partnerin Ivana lebt.    
Foto: EM