Berg, Stadt und weite Welt
Unsere Gastschreiberin Martina Glatt stammt von Pontresina, hat weite Reisen unternommen und geniesst heute ihr Leben in der Altstadt.
Als ich als junge Frau aus dem Engadin nach Zürich zog, wusste ich noch nicht recht, was mich hier erwarten würde. Die Stadt schien unglaublich gross und weit weg von Pontresina, wo ich aufgewachsen bin. Anfangs packte mich immer wieder das Heimweh, insbesondere wenn ich auf der Gemüsebrücke stand und in der Ferne die schneebedeckten Alpen sah. Denn Berge, der Schnee, das Skifahren und Langlauffen waren seit meiner Kindheit meine Begleiter und sind es heute bis heute geblieben. Ich verbrachte während vieler Jahre die Sommermonate am Fusse des Piz Berninas in der SAC-Hütte Tschierva (2500 m. ü. M.), in welcher meine Eltern Hüttenwarte waren. Während unsere Eltern die Gäste aus aller Welt bewirteten, spielten meine fünf Geschwister und ich mit Steinen und erkundeten jeden möglichen Winkel in der Hütte. Zuweilen war so viel Betrieb in der Hütte, dass auch wir Kinder unsere Eltern so gut es nur ging unterstützten mussten.
Vom Berg in die Stadt
Es waren trotz der zum Teil strengen und langen Arbeitstage schöne Zeiten in dieser kleinen Welt auf dem Berg, weit weg von der Zivilisation. Deshalb war auch mein Vater immer einer der ersten, der ausrücken musste, wenn Bergsteiger in Not geraten waren, und sie wieder sicher ins Tal bringen.
Damals hätte ich mir kaum erträumt, einmal in Zürich heimisch zu werden. Mein Weg vom Berg in die Grossstadt führte mich zuerst noch über eine andere Stadt in der Westschweiz, wo ich meinen Mann Alby Glatt kennenlernte. Er, als waschechter Zürcher (oder fast – als Kind wuchs er in Dietikon auf), war denn auch der Grund, weshalb ich mich nach Zürich wagte, genauer gesagt an den Rüdenplatz. Das anfängliche Heimweh wandelte sich dank ihm und der dörflichen Atmosphäre der Altstadt rasch in ein Gefühl der Heimat.
Dazu beigetragen hat sicher auch die Marktgasse, die damals ihrem Namen noch gerecht wurde und in kürzester Distanz alles bot, was man zum Leben brauchte. Den leckeren Käse von Müdespacher, das frische Brot von Bertschi oder ein Stück Fleisch aus der Metzgerei Geiser vermisse ich heute. Zu diesen Pfeilern des Kleingewerbes dem rechten Limmatufer entlang zählten für uns später auch Fritz Schneiter, vielen einfach als «Blumen-Fritz» bekannt, und der Früchtestand von Giorgio.
Von der Stadt in die weite Welt
Von Zürich reisten wir regelmässig beruflich in die weite Welt hinaus, wodurch Zürich und die Altstadt, mit einem neuen Blick, schon fast wieder wie ein Dorf erschien.
Mein Mann organisierte damals Charterflüge für Gastarbeiter nach Spanien und Portugal. Seine grosse Leidenschaft galt aber den Nostalgiezügen, so dass er Ende der 1970er-Jahre die alten Bahnwagons des Orient-Express zusammensuchte und mit viel Aufwand restaurieren liess. Das grosse Abenteuer begann 1976 mit einer Fahrt von Zürich bis nach Istanbul. Legendär war dann die Reise 1988 von Paris-Moskau-Peking-Hongkong-Tokio mit vielen Drehgestellwechseln in den verschieden Ländern. Diese Fahrt führte sogar zu einem Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Der Orient-Express erfreute sich so grosser Beliebtheit, dass sogar Michael Jackson in den 1980er-Jahren als Gast mitreiste, was für die Crew ein grosses Highlight war. Genauso unglaublich wie Michael Jacksons Besuch erscheint heute die Tatsache, dass Fritz Schneiter in den 1980er-Jahren mitsamt einer grossen Ladung Blumen im Gepäck bis nach Moskau reiste, um dort die Zugwagons mit frischen Blumen auszustatten. Zurück in Zürich, boten Fritz’ Blumen eine schöne Erinnerung an diese Art zu reisen, auch lange nach dem Ende des Orient-Express.
Zurück im Dorf
In den letzten Jahren, insbesondere seit dem Tod von Alby vor zehn Jahren, werden die Kreise wieder kleiner und ich geniesse das Kleinräumige der Zürcher Altstadt.
Rund um den Rüdenplatz hat sich zwar vieles verändert – auch Fritz hat seinen Stand geschlossen – aber er ist für mich immer noch einer der besten Plätze im Quartier. Von hier aus kann ich die Alpensegler am Grossmünster und gleichzeitig die Enten auf der Limmat beobachten, während am Sonntag rundherum das volle Glockengeläut zu hören ist. Die um die Kirchtürme kreisenden und zwitschernden Alpensegler sind für mich immer die ersten Sommerboten und ein Zeichen, dass bald wieder die ersten Gäste die Piazza der «Mère Catherine» geniessen werden.
Besonders schön am Rüdenplatz finde ich auch, dass es das Arthouse Movie noch gibt, in welches ich theoretisch in den Pantoffeln rüberspazieren könnte und dass man bei der «Rüden-Bar» so gemütlich draussen sitzen und auf die Limmat schauen kann.
Während den Wintermonaten rücken die Berge wieder näher, weil ich dann häufig zurück ins Engadin fahre. Obwohl die Berge ihre Anziehungskraft nicht verloren haben, komme ich immer wieder gerne zurück ins Dörfli, weil ich dieses dank meiner Enkelkinder wieder ganz neu entdecken darf. Es ist schön, dass Charlotte und Moritz dank der kurzen Wege nach der Schule regelmässig zu mir kommen und dass wir gemeinsam am Weihnachtsspiel vom Kirchenkreis eins teilnehmen können. Solche Generationen übergreifende Projekte sind meines Erachtens eine grosse Bereicherung für alle. Man kann viel voneinander lernen und das gemeinsame Singen verbindet.
Bereits mit dem Beitritt zu den «BündnersängerInnen», die sich inzwischen in der «Älpli-Bar» an der Ankengasse zum Singen von italienischen und romanischen Volksliedern treffen, durfte ich dieser Leidenschaft nachgehen. Auch hier sind die Wege schön kurz.
Kurz ist auch der Weg zu einem weiteren Projekt des Kirchenkreis eins auf dem Platz vor dem St. Peter. Im Juni und im Juli gibt es unter den schattenspendenden Bäumen eine «Leseliege», für welche das Freiwilligenteam (inklusive mir) Liegestühle und einen Büchertisch mit einer Menge interessanter Bücher bereitstellt. Die Leseliege ist ein Projekt, welches ich wärmstens empfehlen kann. Man kann von diesem Platz aus die Berge zwar nicht ganz sehen, aber an allerbester und bequemer Lage über sie lesen.
Nun trinke ich einen feinen Blauburgunder aus Stein am Rhein meiner Tochter Selina Leibacher-Glatt, die dort in eine Winzerfamilie eingeheiratet hat und inzwischen Mutter von drei kleinen Kindern ist.
Martina Glatt
Unsere Gastschreiberin
Martina Glatt (1948) ist in Pontresina aufgewachsen und absolvierte eine Lehre als PTT-Telefonistin in St. Moritz. Sodann war sie vier Jahre in Genf stationiert, als Air-Hostess bei der Balair CTA. Dort lernte sie ihren Mann Alby kennen. Sie zogen nach Zürich, Heirat 1980. Mit ihrem Mann machte sie Reiseleitungen, etwa mit dem Orient Express von Zürich nach Paris und nach Istanbul, einmal von Paris nach Tokio. Später war sie sechs Jahre am Hauptsitz der UBS am Empfang tätig. Zunächst wohnte die Familie auf der Forch, ab den 1990er-Jahren in der Altstadt.
Schon jung als Ski- und Langlauflehrerin tätig, absolvierte sie seit der Erstaustragung 1968 über fünfzig Engadiner Skimarathons, so auch im Winter 2024 den Halbmarathon. Sie hat zwei Kinder und fünf Enkel.
Foto: EM