Meine Jugend in der Altstadt

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Unser Gastschreiber Ewald Schuler ist an prominenter Lage in der Zürcher City aufgewachsen und erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in der Altstadt.

Bis 1952 wohnte die Familie Schuler in Embrach bei meinen Grosseltern, dann zogen wir nach Zürich. Mein Vater hatte in Embrach in einer kleinen Werkstatt eine Lehre als Mechaniker gemacht. Nach dem Abschluss blieb er in diesem Betrieb als Mitarbeiter. Nach einiger Zeit stellte er fest, dass es in diesem Kleinbetrieb keine Chance auf ein Weiterkommen gab. Auf ein Inserat im Tages-Anzeiger meldete er sich bei «Sprüngli», als Betriebsmechaniker und Hauswart. Er bekam die Stelle. Die Familie Schuler zügelte nach Zürich. – Anfänglich wohnten wir noch in der Tiefenhöfe, hinter dem Sprüngli-Haus. Da waren zwei Gebäude, im einen eine Garage mit Metallwerkstatt, im zweiten Gebäude im Erdgeschoss die Schreinerei. Über der Schreinerei im 3. Stock war unsere Wohnung, in der 1. und 2. Etage die Schokoladen- und Praliné-Produktion. Zwischen den beiden Häusern gab es eine grosse Terrasse mit Gartenhaus. Zu meiner Schulzeit war diese sehr beliebt und oft kamen meine Schulkameraden auf die Terrasse zum Spielen und manchmal gab es sogar Schokolade.
1953 sollte ich bereits in den Kindergarten. Meine Mutter brachte mich am Morgen in diesen, welcher sich an der Schipfe befand. Als sie mich am Abend abholte, teilte ich ihr mit, dass ich zu dieser bösen Frau nicht mehr gehen möchte. So dauerte meine Kindergartenzeit lediglich einen Tag. Ein Jahr darauf ging ich dann in die 1. Klasse im Schulhaus Schanzengraben. Die Lehrerin war sehr jung (wahrscheinlich direkt vom Seminar) und hiess Fräulein Diethelm. Im Schulzimmer befanden sich gleichzeitig die 1. und 2. Schulklasse. Das war sehr interessant, in den ersten 25 Minuten war die Lehrerin mit uns beschäftigt, danach 25 Minuten mit der 2. Klasse. Im 2. Schuljahr wurden die Klassen dann geteilt. Ein Vorteil war, dass wir während eines Jahres die Mitschüler der 2. Klasse kennenlernten.

Der Kollege von der Kreditanstalt
Da es damals in allen grossen Geschäftshäusern Hauswarte gab, waren viele Kinder aus ähnlichem Umfeld wie ich. Einige Kinder kamen aus «besseren» Verhältnissen. Ihre Eltern waren Besitzer von Restaurants, Cafés, Bäckereien-Konditoreien, Kleidergeschäften, Drogerien, Apotheken usw. Es war wirklich eine bunt zusammengewürfelte Bande.
Im Sprünglihaus am Paradeplatz wurde zwischenzeitlich im obersten Stock eine schöne grosse Vierzimmer-Wohnung gebaut. So zog die Familie in die nagelneue Wohnung am teuersten Platz der Schweiz (gemäss Monopoly). Mein Schulkollege, eben aus der 2. Klasse, Theo Beck, war der Hauswartjunge der Kreditanstalt, genau gegenüber von mir. Sein Zimmerfenster ging auf den Paradeplatz, ebenso meines. Eines Tages kamen wir auf die Idee, eine Seilbahn über den Platz zu bauen. Wir überlegten: Wie bringen wir das Trag- und Zugseil über die vielen Kabel der VBZ? Nach zwei Monaten wurde das Projekt erfolglos abgebrochen. Heute wäre das Vorhaben mit einer Drohne ganz einfach zu bewältigen. Da es heute keine Hauswarte mehr gibt, hat sich das Thema erledigt.

Wichtige Spielplätze
Wo waren denn die Spielplätze für die vielen Kinder im Kreis 1? Der Basteiplatz beim Schulhaus Schanzengraben war einer davon, vor allem im Winter. Wir bauten riesige Schneeburgen, nach der Schule fanden dann die grossen Schneeballschlachten statt. Meine Mutter war immer hell begeistert, wenn ich nass bis auf die Unterhose nach Hause kam. Auch der Lindenhof spielte eine wichtige Rolle. Damals gab es noch eine Burgruine gegen die Seite oberhalb des Rennwegs. Wir waren Ritter, Räuber, Bauern usw. Die einen verteidigten die Burg, die anderen wollten sie stürmen. Manchmal gab es auch Tränen wegen blutigen Knien, verstauchten Fussgelenken und Ähnlichem. Mit einem Pflaster, welches die Mütter am Abend montierten, waren solche Bagatellen erledigt.
Die Pfalzgasse führt ja vom Lindenhof hinunter, am «Kindli» vorbei in die Strehlgasse. Sie ist sehr steil und gepflastert. Auf dieser wurden die Trottinett-Rennen ausgetragen. Die waren eigentlich von Beginn an unfair. Viele Kollegen mussten sich mit einem einfachen Holzgefährt mit Metallrädern und Hartgummireifen abfinden. Zwei oder drei besassen ein Luxus-Trotti, mit richtigen Bremsen und Luftreifen. Wer immer gewonnen hat, ist somit klar. Einmal war einer mit seinem Luxusding zu schnell und bremste zu spät. Er landete im Schaufenster des Ladens gegenüber vom
«Kindli». Er hatte viel Glück. Nach diesem Unfall fanden längere Zeit keine Rennen mehr statt.
Vom Lindenhhof gegen die Uraniastrasse war ein grosser Grashügel, damals gab es noch keine Parkgarage. Im Winter wurde auf diesem Hügel eifrig geschlittelt. Ich weiss nur noch, dass man ziemlich schnell war und bei zu spätem Bremsen mitten in der Uraniastrasse landete. Dies hat damals noch niemanden gestört, die Autos kamen nur selten und im Schritttempo.

Bei Franz Carl Weber
Ein ganz wichtiger Spielplatz war natürlich der «Franz Carl Weber». Es verging keine Woche, ohne mindestens einmal ein Streifzug durch den Laden zu tun. Am Rennweg zwischen den beiden FCW-Häusern gab es eine grosse Terrasse. Bei schönem Wetter durften die Kinder die Tretautos, Holländer, Dreiradvelos und Trottis gratis nutzen. Oft gab es Streit um die zwei Tretautos. So etwas hatte niemand. Wenn es ausartete, kam die böse Frau und schickte uns nach Hause und aus war der Spass, bis zum nächsten Mal. Die grossen Eisenbahnanlagen im 2. Stock faszinierte alle, sogar die Mädchen. Ich habe stundenlang die Züge beobachten können. Einmal zu Weihnachten bekam ich eine WESA-Eisenbahn. Die war natürlich nichts gegen die grossen Märklin-Anlagen im FCW. Einmal hat ein Schüler (nicht aus meiner Klasse) herausgefunden, dass man, wenn man lange genug Geduld hat und den richtigen Moment erwischt, beim Vorbeifahren des Zuges die Lok schnell von den Schienen nehmen kann. Am anderen Morgen kam die Polizei in die Schule und verhörte einige Jungs. Zur Strafe musste der Dieb die Lokomotive am anderen Tag eigenhändig der Geschäftsleitung (Herrn P. Weber) zurückbringen und sich entschuldigen.
Für Spiele eigneten sich auch Geschäfts- und Warenhäuser. Es existierten noch etwa vier Paternoster, Personenlifte, in der Nähe der Bahnhofstrasse. Einer befand sich in der St. Peterstrasse. Es brauchte viel Mut, im obersten Stock stehen zu bleiben, um zu testen, ob man doch eventuell kopfüber auf der anderen Seite wieder runterkommt. Dieses Vergnügen dauerte nie lange. Oft wurden wir vom Hauswart entdeckt und nach Hause geschickt. Natürlich gingen wir dann weiter zu Jelmoli, um Rolltreppe zu fahren. Auch dort dauerte das Vergnügen nicht lange, aber aufgegeben haben wir nie!

Klub und Band
Zu einem anderen Vergnügen gab es ja neu die Micky Maus, Fix und Foxi und viele andere Heftli. Begehrt waren vor allem die Micky-Maus-Zeitschriften. In den «In Gassen» befand sich ein Geschäft für gebrauchte Bücher, Heftli usw. Da konnte man bereits gelesene Micky-Maus-Hefte für 50 Rappen kaufen. Zu dieser Zeit waren das alles «Schundheftli», in der Schule natürlich verboten. Trotz allen Verboten war ich Mitglied des Micky-Maus-Klubs. Wir hatten ein Klubhaus auf dem Dach eines Gebäudes am Bahnhofplatz. Auch hatten wir Statuten. Das obligatorische Treffen war zweimal im Monat. Wir hatten Geheimfächer überall in den alten Mauern um den Lindenhof und an der Schipfe. Da versteckten wir Nachrichten, zum Teil in Geheimschrift, die wir nicht immer entziffern konnten. Es wurden Heftli getauscht, im Bahnhofkino in der Bahnhofhalle die neusten Trickfilme genossen, am Mittwochnachmittag, manchmal dreimal denselben Film. Erlaubt war eigentlich nur eine Stunde. Wir haben aber bald verstanden, wie man zwei- oder dreimal bleiben konnte, ohne dass der Aufsichtsmann etwas bemerkte. Zum Schluss noch einiges zu unserer Konfirmandenband St. Peter, «The Moles», Gründung 1965. Pfarrer Trümpy war ja der Jugend sehr gut gesinnt. Als wir, Theo Beck (Gesang), Bobby Schmid (Leadgitarre, Gesang), Hansueli Berger (Piano, Orgel), Hanspi Ehrat (Bass) und ich (Schlagzeug), die Idee hatten, eine Band zu gründen, war unser Pfarrer sehr begeistert und sicherte uns ein Probelokal zu. Das Spielen auf den Instrumenten hatten wir uns alle autodidaktisch beigebracht. Bereits im Jahr 1965 war unser erster Auftritt im Kirchgemeindehaus Bubikon. Es folgten ein paar Dutzend Auftritte, zum Beispiel an der Basler Fasnacht, dem Indien-Fest im Kongresshaus oder beim Beat-Wettbewerb in Olten, Organisation Zeitschrift «Pop». Wir hatten mehr Applaus als die «Sauterelles». Im Theater Hechtplatz zur Première des Musicals «Golden Girls» usw. Leider hat sich die Band 1970 aufgelöst, zum Teil aus beruflichen Gründen.

Viele Erinnerungen
Ich erinnere mich noch an viele Orte, Anlässe, Bands, in denen ich gespielt habe, das Bahnhofkino, der Uetliberg, das Zürcher Hallenbad, das Knabenschiessen, das Sechseläuten, die Seegfrörni 1963, die Seenachts- und Zürifeste, der Künstler-Maskenball, die Züglete der Bärengasse-Häuser (1974), die Glockenhof-Pfadi, die Weihnachtsdeko-Fenster der grossen Zürcher Warenhäuser, wie Oscar Weber, EPA, ABM, Globus, Jelmoli, und vieles mehr.
Nun aber Schluss, vielleicht bei einer anderen Gelegenheit.

Ewald Schuler

UNSER GASTSCHREIBER
Ewald Schuler (1948) ist in Zürich am Paradeplatz aufgewachsen, im
«Sprüngli»-Haus. Er absolvierte die Kunstgewerbeschule (heute ZHdK) als Dekorationsgestalter und arbeitete bei einer Werbeagentur. 1976 gründete er eine Firma für Messebau und die Organisation von Events für Grossfirmen (bis 2023). 1987 eröffnete er mit seiner Frau Mina das Geschäft Pegasus, das sich seit 1997 an der Augustinergasse befindet und neben der Steiff-Galerie ausserdem Geschenkartikel und Souvenirs anbietet. 1999 Bau des Spielzeugmuseums «Pegasus Small World» im Aeugstertal beim Türlersee. Zwanzig Jahre engagierte er sich als Vizepräsident der Stiftung für den Erhalt des Franz-Carl-Weber-Spielzeugmuseums. Seit den 1960er-Jahren spielte er in verschiedenen Bands Schlagzeug/Percussion, bei der Steelband Sandflöh, The Moles, Samba-Gugge Zürich. Er wohnt in der Altstadt, ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter und einen Enkel.

Foto: EM