Altstadt-Erinnerungen

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Unsere Gastschreiberin Maria Feldhoffer ist 2001 nach Zürich gekommen, seit fünfzehn Jahren ist sie beruflich in der Altstadt tätig. Sie erinnert sich.

Als ich am 1. August 2009 die Chance hatte, die «Physiotherapie Altstadt» an der Mühlegasse 25 zu übernehmen, griff ich zu. Eine Entscheidung, die ich nicht bereut habe. Ich wusste nicht sehr viel von der Altstadt und den Menschen dort. Ich freute mich auf eine neue Herausforderung mit der Selbstständigkeit.
Im Jahr 1975 habe ich zuerst eine Bäckerlehre gemacht und dann bis 1984 in verschiedenen Bäckereien und an unterschiedlichen Orten gearbeitet. Nach Berlin kam ich 1984 und absolvierte noch eine zweijährige Ausbildung zur Lebensmitteltechnikerin. Dann folgten verschiedene Arbeitsplätze mit verschiedenen Schwerpunkten. In Berlin gab es 1986 eine Nudelfabrik und dort durfte ich neue Rezepte entwickeln.
Beim Gesundheitsamt Berlin war es dann die Kontrolle verschiedener Einrichtungen, um die Einhaltung der Hygienevorschriften zu überprüfen. Wirklich spannend und interessant, aber ich wollte noch andere Erfahrungen machen.
Nach verschiedenen Überlegungen, was mir noch Freude machen könnte und mich auch fordert im positiven Sinn, kam die Ausbildung zur Physiotherapeutin. 1997 durfte ich nach spannender und umfangreicher Ausbildung das Diplom entgegennehmen. Es folgte eine intensive Zeit in der Neurologischen Rehaklinik in Beelitz Heilstätten. Das Schöne an dem Beruf ist, dass er so vielfältig ist und es so viele Möglichkeiten gibt, sich weiterzubilden und immer wieder etwas Neues zu lernen.
Nach dem Umzug aus Berlin im Jahr 2001 in die Schweiz führte mich der Weg erst nach Bellikon in die Rehaklinik, danach ins Triemli. Dort durfte ich an der Ausbildung junger «Physios» mitwirken. Es folgte eine Stelle im Aargau in einer privaten Praxis. Zürich ist seit 2001 mein Wohnort und die Altstadt kannte ich nur von gelegentlichen Besuchen. Es war immer schön, durch die Gassen zu bummeln.

Hausbesuche
Die Selbständigkeit in der Altstadt gab mir die Möglichkeit, Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedener Berufe und mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund mit spannenden Geschichten kennenzulernen. Die unterschiedlichen Charaktere und die Verbindung mit der Geschichte der Altstadt haben mich der Altstadt nähergebracht.
Bei den Hausbesuchen hatte ich die Gelegenheit, in manches Altstadthaus zu kommen. Faszinierend waren die unterschiedlichen Wohnungen und die verborgenen Oasen, die ich da kennenlernen durfte. Zum Beispiel ein von aussen unscheinbares Haus und dahinter ein traumhafter schöner Garten. Das mitten in der Altstadt.
Eine ältere Dame erzählte mir, wie sie als junge Frau bei der Kartoffelernte mithalf während des Zweiten Weltkriegs. Die Kartoffeln wurden auf dem Sechseläutenplatz angebaut, damit die Bevölkerung etwas zu essen hatte.
Eine 90-jährige Frau erzählte mir, wie sie für das Frauenstimmrecht auf die Strasse ging, um das Recht zu erkämpfen.
In einer der schmalen Gassen sind die Häuser so eng zusammengebaut, dass sich die Menschen bei geöffneten Fenstern die Hand geben konnten. Da kam es bei einem Hausbesuch schon vor, dass die Nachbarin gerufen wurde. «Trudi, hast du noch Milch?» Trudi hatte welche und reichte die Milch einfach durchs Fenster über die Gasse.
Ein Mann, der in den 1960er-Jahren nach Afrika ging, um für die Schweizer Botschaft zu arbeiten, lernte dort seine Frau kennen. Sie war ein echtes Zürcher Altstadtkind. Die beiden zog es dann nach einigen Jahren in Afrika in die Altstadt. Ich durfte das Paar kennenlernen und begleiten.

Altstadtgeschichten
Eine Familie, die auch sehr in der Altstadt verwurzelt ist, zog es Ende der 1950er-Jahre nach Griechenland. Dort lebte die Familie auf unterschiedlichen Inseln und das Geld wurde mit Deutschunterricht verdient. Dann ging es zurück in die Altstadt. Die Kinder wurden erwachsen und zogen aus ins eigene Leben. Der Mann ist verstorben und die Frau holte sich die Welt in die Wohnung. Sie war nicht mehr so gut zu Fuss und die Treppen zur Wohnung waren mittlerweile eine echte Herausforderung. So vermietete sie ein Zimmer an junge Menschen, die in Zürich studierten und eine Unterkunft suchten. Eine Win-win-Situation für alle.
Dass die Predigerkirche immer um 12.10 Uhr läutet, ist auch speziell und mir wurde die Geschichte der Altstadt-Kirchen erzählt.
Spannend war auch zu erfahren, in welchen Häusern welches Gewerbe angesiedelt war. Ein Mann erzählte mir, dass an der Mühlegasse 25 in den Räumen der «Physiotherapie Altstadt» bis in die späten 1960er-Jahre eine Badeanstalt war. In den Räumen standen die Badewannen und daneben stand ein Wecker, damit die bezahlte Badezeit eingehalten wurde. Jeden Samstag hat sich die Familie das wöchentliche Bad gegönnt. Das war ein festes Ritual. Viele der Altstadtwohnungen hatten noch kein Bad und das WC war im Treppenhaus. Das Haus Mühlegasse 25 wurde im Jahr 2023 restauriert und an der Fassade über dem Fenster steht jetzt in goldenen Buchstaben «Badeanstalt».
Im Laufe der Jahre durfte ich verschiedene Einrichtungen der Altstadt unterstützen. Es war mir wichtig, dazu beizutragen, dass diese auch erhalten bleiben. Es gibt ein gutes Gefühl, etwas zum Altstadtleben beizutragen. Die Gassen sind mir vertraut geworden. Auf Menschen zu treffen, denen ich schon bei gesundheitlichen Problemen helfen durfte. Es wird gelächelt, gegrüsst, zugewunken und ein kleiner Schwatz gehalten. Eben wie im Dorf üblich. Alle Fassetten des Lebens durfte ich miterleben von Geburten bis zum Abschiednehmen von manchen lieben Menschen, die gestorben sind.
Das Dörfli hat sich verändert, so wie es im Leben ist. Neue Menschen ziehen in die Altstadt, einige verlassen das Dörfli aus unterschiedlichen Gründen. So bleibt das Leben im Dörfli weiter lebendig. Der Charme der Altstadt ist da. Die Originalität und die besonderen Menschen mit ihren Geschichten und das ist gut so.

Neuer Lebensabschnitt
Nach fünfzehn Jahren ist ab dem 1. Oktober 2024 für mich die Selbständigkeit zu Ende. Ich werde nach insgesamt 49 Jahren Berufsleben in den Unruhestand gehen. Was ich noch alles machen werde, steht noch in den Sternen. Meine Wunschliste ist lang. Reisen, Kultur, Musik und Sport gehört sicherlich dazu. Den einen oder anderen Halbmarathon möchte ich noch machen, wenn alles gut geht. Ich werde die Altstadt mit einem weinenden und einem lachenden Auge verlassen.
Sicherlich werde ich das Dörfli besuchen kommen. Die Menschen der Altstadt haben mein Leben bereichert. Herzlichen Dank für das Vertrauen und für die Freundschaften. Auf Wiedersehen im Dörfli. Viel Gesundheit für uns alle.

Maria Feldhoffer


Unsere Gastschreiberin
Maria Feldhoffer (1960) ist in Baden-Württemberg aufgewachsen, wo sie zunächst eine Bäckerlehre machte und in diversen Bäckereien arbeitete, bis sie 1984 nach Berlin zog, um dort eine Ausbildung in der Lebensmitteltechnik anzutreten, gefolgt von verschiedenen Jobs in dem Bereich. Ab 1994 absolvierte sie die Ausbildung zur Physiotherapeutin und arbeitet seither in ihrem neuen Beruf. 2001 zog sie in die Schweiz, fand eine Anstellung in der Rehaklinik Bellikon und war sodann im Zürcher Stadtspital Triemli tätig, als Ausbildnerin. 2009 übernahm sie die Praxis «Physiotherapie Altstadt» an der Mühlegasse. Ende September geht sie in Pension.
Sie wohnt im Kreis 3, treibt Sport, spielt Saxofon, ist kulturell interessiert und ist gern auf Reisen.

Foto: EM