Das Tortenhaus am Rindermarkt

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Unsere Gastschreiberin Sophie Kreutzberg lebt seit einigen Jahren in der Altstadt in einem Haus, das Geschichte atmet. Und einem beim Hochsteigen den Atem rauben kann.

Komm rein! Ich erzähle dir mein Haus.
Durch eine alte, schwere Holztüre mit Rundbogen betrittst du ein längst vergangenes Zürich.
Zunächst einen engen Gang mit Briefkästen.
Das ist in diesem Teil der Stadt – dem Niederdorf – nicht ungewöhnlich. Die Briefkästen sind meistens im Haus. Platzmangel vor dem Haus, Postkartenaltstadt ohne profane Briefkastenwände – ungestörte Ansicht der denkmalgeschützten Pracht für Touristen…
Erst nach einer weiteren Türe bist du im Haus.
Genauer im Mittelalterteil des Hauses, erstmals erwähnt in einer Chronik vor 700 Jahren.
Das Haus zum Palmbaum.
Passend zum Namen wurden im Entrée im Zuge einer Renovation kleine Palmbäumchen oberhalb des Frieses auf die Wand gestempelt.
Das Haus steht unter Denkmalschutz, aber in all den Jahren liessen sich doch ungestraft einige Sonderbarkeiten anbringen…
Es riecht nach Staub und es riecht nach Alt. Kein schlechter Geruch, aber einer der in der Nase kitzelt.

Kellergewölbe
Ein paar Stufen führen vom Entrée in eine Art Kellerraum mit hohem Gewölbe: Platz für Velos, das Lager vom Kleiderladen im Erdgeschoss, Standort der Biotonne und einer strammen Kolonie unausrottbarer Fruchtfliegen. Der Laden leidet unter den Fliegen und dem Mief. Wir Mieter sind froh um die Kompostentsorgungsmöglichkeit.
Das Problem sollte gelöst werden mit dem Bau eines Biomüll-Unterflurcontainers hinter dem Haus. Nur gab es dort einen mittelalterlichen Friedhof…
Wir verlassen das Lager-Velo-Biomülltonnen-Gewölbe.
Eine weitere Tür führt vom Entrée über eine steile, wackelige Holzstiege in den eigentlichen Keller.
Richtig tief unter die Erde.
Hier befinden wir uns weit in Zürichs Vergangenheit. Diesen Keller gab es schon zu Zeiten, als man seine Notdurft noch praktisch vor das Haus kippen konnte.
Angeblich ein idealer Weinkeller. Leider unappetitlich. Vollgestopft mit Kram früherer Mieter, die diesen Keller als Entsorgungsstation entdeckt hatten. Endlagermässig finden sich hier: ein kaputtes Sofa, zerdrückte Lampenschirme, zerbrochene Kronleuchter und Kisten mit Undefinierbarem.
Wir verlassen diesen uralten Keller gerne wieder.
Vorsicht beim Aufstieg über die wacklige Treppe.

Mehrere Schichten
Wieder im Entrée, gebe ich dir ein Bild für den Aufstieg mit. Zur Orientierung: Über die Jahrhunderte wurde das Haus wie eine Torte um ein oder mehrere Stockwerke aufgeschichtet.
Wir verlassen den Tortenboden und steigen über eine schöne, geschwungene Holztreppe in den ersten Stock. Das Haus hat hier einen unscheinbaren Hintereingang.
Von dort zur Treppe führt ein schmaler Gang. – Noch einiges schmaler wegen leeren Blumentöpfen und anderem, was keinen Platz im Endlagerkeller fand…
Im zweiten Stock öffnet sich ein grosser Raum.
Eine Gemeinschaftsküche vor dir, schicker alter Holzofen! Leider ausser Betrieb.
Du suchst die Fortsetzung der Treppe. So geht es allen beim ersten Aufstieg. Die Treppe führt im hinteren Teil des Raumes nach oben.
Es gibt im alten Haus nicht nur Stockwerke, sondern auch Zwischenstockwerke.
Wie Tortenschichten mit reingedrückter Aprikosenfüllung.
Wir steigen weiter hoch.
Verlassen das Mittelalter und kommen im dritten Stock zur Frühen Neuzeit.
Damals wurden zwei Häuser miteinander verbunden.
So entstand das breite Treppenhaus.

Viele Toiletten, eine Dusche
Lange wurde das Haus von Nonnen bewohnt. Heute befindet sich auf jedem Stock eine einzelne Wohneinheit: einige Wohnungen, mehr einzelne Zimmer, viele Toiletten – auch auf halber Treppe – aber nur ein Bad mit Dusche und Waschmaschine für alle. Und die Gemeinschaftsküche.
Wie eine Gross-WG. Über Stockwerke verteilt.
Früher sei das Treppenhaus ein grosses Wohnzimmer gewesen: voller Möbel, Pflanzen und Bilder.
Dann hat eine neue Verwaltung dem einen Riegel vorgeschoben.
Brandschutz.
Da darf nix im Treppenhaus sein.
Wie das so ist, hielten sich am Anfang alle an die neue Ordnung – wer will schon für das Abfackeln des Hauses verantwortlich sein. – Aber mit der Zeit sucht sich das Wohnen seinen Weg.
Nicht mehr in Form von Pflanzen, Möbeln oder Kunst im Treppenhaus, sondern:
Stauraum für Schuhe, Stevis oder feinsäuberlich gebündeltes Altpapier.
Im fünften Stock – Tortenschicht 1750 – befindet sich der Estrich und zwei Räume:
Wir nennen sie Gästezimmer und Werkstatt.
Man darf die Räume aber nicht bewohnen!
Die Werkstatt ist ein gefangener Raum mit Steinboden.
In solchen Räumen wohnte man früher hauptsächlich im Winter. Dort war es am wärmsten, weil ohne Fenster.
Das Gästezimmer hat ein Fenster. Man schläft gut dort.
Aus dem Fenster sieht man einen alten Taubenschlag und die Spitze der Predigerkirche.
Mit dem Estrich haben wir nun bereits 400 Jahre Zürich erklommen.
Aber eine Schicht passt noch auf die Torte, dachte man hundert Jahre später. – Und so bekam das Haus einen weiteren Stock.
Mein Zuhause.
Du hast genau 96 Stufen seit dem Erdgeschoss geschafft.
Kein Mensch kommt beim ersten Mal Hochsteigen nicht gepeinigt und demütig an.
Vorsicht vor dem Loch im Boden!
Aber das Beste muss man sich verdienen.
Darum bitte noch eine letzte Treppe hoch. Es lohnt sich!
Durch eine kleine, knarzende doppelflügelige Türe gelangen wir auf die Zinne. Du stehst in einem blühenden Garten hoch über dem Niederdorf. Gemeinschaftlich gegossen und gegen die glühende Sommerhitze verteidigt.
Seit kurzem haben wir als ständige Bewohner neben den Ameisen auch Weinbergschnecken. Die fressen unsere Erdbeeren. – Aber wer es hier
hoch geschafft hat, darf bleiben.
Du siehst auf die Dächer der Altstadt: Zürichberg und Uetliberg geben den Rahmen.
Schön bist du mitgekommen.
Ich hol dir erstmal ein Wasser!

Sophie Kreutzberg

Unsere Gastschreiberin
Sophie Kreutzberg (1985) ist in Zürich-Fluntern aufgewachsen und machte die Matura. Es folgten fünf Jahre Regieassistenz für Theaterproduktionen in Zürich und Berlin. Anschliessend studierte sie Politik und Filmwissenschaften (Bachelor), darauf erlangte sie einen Master in Religion, Wirtschaft und Politik. Sie hatte verschiedene Jobs, auch in Bern, und war dann vier Jahre Parteisekretärin der Grünen Stadt Zürich. Seit 2022 arbeitet sie bei einer Kommunikations-Agentur, wo sie Projektleitungen macht.
Seit 1990 lebt sie mehrheitlich in Zürich, seit 2021 in der Altstadt, mit ihrem Partner Raphael und dem Sohn Ari. – Ihr Pferd Syria hat sie vor 22 Jahren als 16-jähriges Mädchen gekauft. Sie schreibt gern.

Foto: EM