Meine Beziehung zur Altstadt
Unsere Gastschreiberin Ruth Obrist lebt seit über fünfzig Jahren in der Altstadt. Zuerst in einfachen Wohnverhältnissen in Altbauten ohne Komfort. Sie schätzt das Leben in der Altstadt sehr.
Ich bin kein waschechtes Altstadtkind, von denen (in meinem Alter) immer noch einige hier leben. Diese sind in den Neumärt-Chindsgi zu Fräulein Zangger oder in den Trittligass-Chindsgi und danach ins Hirschengrabenschulhaus, früher noch ins Wolfbachschulhaus gegangen. Ich hingegen ging ins Neumünster-Schulhaus und in die Katholische Mädchensekundarschule am Hirschengraben. Mein Vater ging ins Seefeld-Schulhaus, meine Mutter ins Ilgen. Der Schwümm-Unti war zu meiner Zeit in der Badi Utoquai beim stadtbekannten strengen Fräulein Böckli. Meine Brüder gingen auch ins Utoquai zu, Herrn Stelzner. Selbst meine Mutter (geboren 1920) hatte schon Schwümm-Unti, in der Frauenbadi. Nachfragen kann ich nicht mehr.
Nachdem ich in den Jugendjahren nach der Lehre mir die Welt ein bisschen angesehen hatte, jedenfalls Spanien und den Mittleren Orient, bin ich von zu Hause – das war an der Forchstrasse, auf der wir als Kinder noch gespielt hatten – mit kurzem Umweg übers Niederdorf ins Oberdorf gezogen.
Meine Grosseltern sahen das Niederdorf als das, was es damals wohl auch war, als unhygienisch, dreckig, dunkel. Dorthin ging man nicht. Man unterschied nicht zwischen Niederdorf und Oberdorf.
Haus kurz vor dem Abriss
Nach halbjährigem Aufenthalt im unteren Niederdorf bin ich 1970 also ins Oberdorf gezogen. Die erste Station war das Konstanzerhaus an der Kirchgasse 32. Es gehörte damals Samen-Mauser, der einer Freundin und mir die beiden grossen Mansardenzimmer provisorisch vermietete, weil das Haus zum Verkauf stand. Ein Stockwerk tiefer war eine grosse Terrasse und nochmals ein Stockwerk tiefer eine grosse Küche und ein grosses Badezimmer. Der neue Käufer des Hauses hatte ein Baugespann aufgestellt, das weit über die ehemaligen Stallungen hinaus reichte bis hinüber zur Schlossergasse. Mir träumte, dass jemand im Haus herumgeistere. Ich wollte den Traum meiner Mitmieterin nicht erzählen, um ihr nicht Angst zu machen. Als ich jedoch am Morgen in die Küche hinunterkam, fragte sie mich, ob ich das auch gehört hätte. Unser Schrecken sass tief, und um nicht verrückt zu werden, dachte ich, wir müssten das Haus vor dem Abriss retten. Wir setzten einen Brief auf,
an den Gemeinderat, an den Heimat- und Denkmalschutz, und sammelten Unterschriften im Oberdorf. Der sich wandelnde Zeitgeist gegenüber Kulturgütern kam uns entgegen. Die Stadt kaufte das Haus und renovierte es stilgerecht.
1974 war ich einen Sommer lang an der Predigergasse. Die Kunstschlosserei Gautschi hatte dort ihre Werkstatt. Es wurde mir gekündigt, weil wir bis in alle Nacht hinein uns am offenen Fenster zu laut unterhalten hatten. Selber schuld. Ich selbst mag auch keine akustischen Übergriffe.
Kein eigenes WC
Ab 1975 hatte ich die erste städtische Wohnung, anderthalb Zimmer im Oberdorf an der Kruggasse, im 5. Stock mit Terrasse für mich allein, kleine Küche, ohne Dusche und eigenes WC. Das WC für drei Wohnungen war im 3. Stock.
Als sich 1979 ein Kind ankündigte, dachte ich, dass es zu kompliziert würde, wenn das WC zwei Stockwerke tiefer liege, und ich fragte um eine andere Wohnung. Herr Falk von der Ligi sagte, dass es keine Wohnungen im Quartier gäbe (altbekanntes Phänomen!), dass ich anderswo suchen müsse. Ich wollte aber nicht aus dem Quartier weg und hatte das Glück, dass ich wenige Wochen vor der Geburt an die Chorgasse zügeln konnte. Eine Dreizimmer-Wohnung, wovon ein Zimmer nur über das Treppenhaus erreichbar war. Es hatte keine Dusche, das WC auf demselben Stockwerk war zu teilen mit einer alten Frau.
Der beruhigte Neumarkt
Als meine Tochter im Frühling 1984 in den Neumarkt-Chindsgi zu Frau Zangger kam, bot mir Herr Stahel von der Ligi die Wohnung am Neumarkt an. Endlich Dusche und WC in der eigenen Wohnung!
Zu Beginn war es sehr laut am Neumarkt. Autos fuhren die Gasse rauf und runter, parkierten, Türen wurden zugeschlagen, 24 Stunden am Tag. Dann wurden in den 1990er-Jahren Leitungen saniert, der Neumarkt aufgebrochen, mit dem Kopfsteinpflaster wieder zugedeckt, und nach der Fertigstellung pflanzte der damalige Vorsteher des Tiefbauamtes, Stadtrat Ruedi Aeschbacher, die «Pfosten» ein. Seither ist der Neumarkt paradiesisch, eine Dorfstrasse mitten in der Stadt.
Mitten im Quartierleben
Ich wollte das Kind nicht in den Hort bringen und fand eine Arbeit, die ich
in «Homeoffice» – das noch niemand so nannte – machen konnte.
Dafür bin ich bis heute dankbar. Ich schrieb die Texte und koordinierte Termine für eine Literaturwissenschaftlerin und Psychologin, die ihre Wohnung und Praxis an der Predigergasse hatte.
Als meine Tochter mit dem Studium fertig war, zog sie an die Schipfe (auch eine Stadtwohnung), sie kannte ihren Freund schon von der Pfadi. Er wollte in Höngg, sie in der Altstadt bleiben. Als sich dann 2020 das zweite Kind anmeldete, zogen sie endlich zusammen – und zwar an den Neumarkt. Das Haus gehört einer Erbengemeinschaft. Seither gehen meine Enkelkinder in den Neumärt-Chindsgi und ins Hirschengrabenschulhaus. Ich lerne eine neue Generation Altstadtbewohnerinnen und -bewohner kennen. Kenne auch viele Schulgspähnli meiner Enkel. Es ist die perfekte Lösung für alle. – Da ich von meiner Wohnung im 3. Stock den ganzen Neumarkt von der Spiegelgasse bis zum Rechberg überblicke, weiss ich immer, was läuft.
Ich habe die beste Nachbarschaft, die man sich wünschen kann und den besten Lebensmittelladen nebenan. Und hoffe, es bleibe noch ganz lange so. Mein Haus ist das Beste, was mir passieren konnte. Wir haben eine gute Nachbarschaft, nicht zu nah und nicht zu anonym – das hasse ich –, im grossen, schönen Treppenhaus begegnet man sich oft und hält manchmal einen kleinen Schwatz, genauso wie auf der Gasse. Ich bin nie allein, und so viel allein, wie für mich nötig.
Mit dem neuen «Quartierstammtisch» lerne ich auch längst eingesessene Quartierbewohnerinnen und -bewohner neu kennen.
Ruth Obrist
Unsere Gastschreiberin
Ruth Obrist (1944) ist in Zürich Hirslanden aufgewachsen und absolvierte eine kaufmännische Lehre bei einem kleinen Offset-Photolitho-Betrieb. Es folgte ein einjähriger Sprachaufenthalt in Paris, in Schule und Büro. Später unternahm sie Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Spanien und von Zürich bis nach Nepal. Sie hatte verschiedene Arbeitsstellen, unter anderem bei einem Marktforschungsinstitut. Geburt einer Tochter 1979. Arbeit als Sekretärin beim Physikalisch-Chemischen Institut der Uni Zürich und im «Homeoffice» Schreib- und Büroarbeiten für eine Psychologin und ihr Institut. Sie lebt seit 1970 in der Altstadt und hat zwei Enkelkinder, die wie sie am Neumarkt wohnen.
Foto: EM